Saemtliche Dramen
schicken Sie diese Männer weg. Gehen Sie zu Tichon, ja, zu Tichon … Ich habe Ihnen schon von ihm erzählt. Gehen Sie zu Tichon!
PJOTR
Tichon? Wer ist das?
FEDKA
Ein heiliger Mann. Wehe, du redest schlecht von ihm, kleine Wanze, ich verbiete es dir.
PJOTR
Warum, hat er mit dir gemordet? Gehört er zur Blutskirche wie du?
FEDKA
Nein. Ich töte. Und er vergibt den Verbrechern.
Dunkel
DER ERZÄHLER
Ich kannte Tichon nicht persönlich, ich wusste nur, was man in unserer Stadt über ihn erzählte. Bei den einfachen Leuten galt er als heilig. Aber die Obrigkeit misstraute ihm wegen seiner Bibliothek, in der fromme Schriften neben Theaterstücken und vielleicht noch Schlimmerem standen.
Eigentlich bestand keinerlei Chance, dass Stawrogin ihn aufsuchen würde.
Vierzehntes Bild
(Tichons Zelle im Marienkloster. TICHON und STAWROGIN stehen einander gegenüber.)
STAWROGIN
Hat meine Mutter behauptet, ich sei verrückt?
TICHON
Nein, eigentlich nicht. Sie hat mir von einer Ohrfeige berichtet und von einem Duell. (Er setzt sich ächzend.)
STAWROGIN
Sind Sie krank?
TICHON
Ich habe starke Schmerzen in den Beinen. Und ich schlafe schlecht.
STAWROGIN
Soll ich Sie allein lassen? (Er dreht sich zur Tür.)
TICHON
Nein. Setzen Sie sich!
( STAWROGIN setzt sich, den Hut in der Hand, in der Haltung eines Weltmannes. Aber er scheint mühsam zu atmen.)
Sie wirken ebenfalls krank.
STAWROGIN (mit demselben Gesichtsausdruck)
Das bin ich auch. Sie müssen wissen, ich habe Halluzinationen. Oft sehe oder spüre ich in meiner Nähe eine Art spöttisches, boshaftes, vernunftbegabtes Wesen. Es erscheint in verschiedener Gestalt, aber es ist jedes Mal dasselbe, und es bringt mich zur Weißglut. Ich muss einen Arzt aufsuchen.
TICHON
Ja. Tun Sie das.
STAWROGIN
Nein, es nutzt nichts. Ich weiß, worum es sich handelt. Und Sie auch.
TICHON
Meinen Sie den Teufel?
STAWROGIN
Ja. Sie glauben an ihn, nicht wahr? Für einen Mann in Ihrer Stellung gehört sich das wohl auch.
TICHON
Nun, in Ihrem Fall handelt es sich wahrscheinlich um eine Krankheit.
STAWROGIN
Sie sind skeptisch. Glauben Sie wenigstens an Gott?
TICHON
Ich glaube an Gott.
STAWROGIN
Es steht geschrieben: «So ihr Glauben habt, so mögt ihr sagen zu diesem Berg: Hebe dich von hinnen dorthin! So wird er sich heben.» Können Sie Berge versetzen?
TICHON
Mit Gottes Hilfe vielleicht.
STAWROGIN
Warum nur vielleicht? Wenn Sie glauben, müssen Sie ja sagen.
TICHON
Mein Glaube ist unvollkommen.
STAWROGIN
Es sei, wie’s sei. Kennen Sie die Antwort jenes Bischofs aus der Geschichte? Ein Barbar, der alle Christen umbrachte, hatte ihm schon das Messer an die Kehle gesetzt und fragte ihn, ob er an Gott glaube. «Ein ganz kleines bisschen», sagte der Bischof. Eine würdelose Antwort, was?
TICHON
Sein Glaube war unvollkommen.
STAWROGIN (lächelt)
Ja, ja. Aber für mich muss der Glaube vollkommen sein oder gar nicht. Darum bin ich Atheist.
TICHON
Ein vollkommener Atheist ist achtenswerter als ein Gleichgültiger. Er steht auf der letzten Stufe vor dem vollkommenen Glauben.
STAWROGIN
Ich weiß. Erinnern Sie sich, was in der Apokalypse über die Lauwarmen geschrieben steht?
TICHON
Ja. «Ich weiß deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach, dass du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde. Du sprichst …»
STAWROGIN
Genug. (Pause. Ohne ihn anzusehen) Wissen Sie, ich bin Ihnen sehr zugetan.
TICHON (leise)
Ich Ihnen auch.
(Ziemlich lange Pause. Er streift mit dem Finger STAWROGIN s Ellbogen.)
Sei mir nicht böse.
STAWROGIN (zuckt zusammen)
Woher wissen Sie … (Wieder im gewohnten Tonfall) Ja, ich war Ihnen böse, weil ich Ihnen meine Gefühle verraten habe.
TICHON (mit fester Stimme)
Jetzt seien Sie mir nicht mehr böse und sagen Sie mir alles.
STAWROGIN
Sie sind also sicher, dass ich mit einer bestimmten Absicht komme?
TICHON (schlägt den Blick nieder)
Ich habe es Ihnen im Gesicht angesehen, als Sie eingetreten sind.
( STAWROGIN ist blass. Seine Hände zittern. Dann holt er einige Papiere aus der Tasche.)
STAWROGIN
Gut. Hier. Ich habe einen Bericht über mich verfasst und werde ihn veröffentlichen. Was immer Sie mir auch sagen, an dieser Entscheidung ist nicht zu rütteln. Aber Sie sollen diese Geschichte als Erster hören. ( TICHON nickt langsam.) Verstopfen Sie sich die Ohren. Versprechen Sie mir, dass Sie nicht hinhören, dann werde ich reden. (
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