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Saemtliche Werke von Jean Paul

Saemtliche Werke von Jean Paul

Titel: Saemtliche Werke von Jean Paul Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean Paul
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wieder, aus dem ihm immer die eigentliche Schöpferkraft kam. »Über die verwelkten Kindheitsjahre strömt auf uns ein Wohlgeruch herüber, der schwer zu erklären ist«, fährt er an Wernlein fort. Schon suchte er in dem mehrmals erwähnten Roman, an dem er »laiche«, die Gestalten der eigenen Kindheit zu beschwören. In diesen fröhlichen Sommermonaten, im ständigen Verkehr mit den geliebten Zöglingen, in neuer Freiheit und edelstem Wirken geschah, was er selbst »den seligen Übertritt in die unsichtbare Loge« nannte. Eine ganze Welt erfüllte er zum erstenmal mit seinem Hauch. Über die Erde fühlte er sich emporgetragen und selbst den kosmischen Kräften eingereiht. Nach einigen Monaten der Arbeit empfand er es an einem Abend besonders deutlich, so daß es sich ihm in Worte faßte, die wenigstens einen Schimmer des innern Erlebens einfangen, das ihm die Welt aus den alten Angeln hob. Am 15. November trug er in das Tagebuch ein:
    »Wichtigster Abend meines Lebens; denn ich empfand den Gedanken des Todes, daß es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in dreißig Jahren sterbe.« Oder am nächsten Tag: »Ich richtete mich wieder auf, daß der Tod das Geschenk einer neuen Welt sei und die unwahrscheinliche Vernichtung ein Schlaf.« Es war die Antwort, die er sich selbst auf das Fragezeichen seines »toten Christus« gab. Nicht nur so zu deuten, daß ihn die Sicherheit der eigenen Unsterblichkeit in diesen zwei totengleich zugebrachten Tagen überkam, sondern daß er sich selbst als ewige Einheit, als unvergängliche Monade erkannte, von der das Erdenleben nichts fortnehmen und zu der es nichts hinzutun konnte. Es war gleichgültig, was er schrieb und wieviel er schrieb. Er und die Welt war ewig, und kein Sonnenstäubchen ging verloren oder hinzuzugewinnen. Alle Keime enthielten schon Blüte und Frucht. Es war die Befreiung vom Werkwahnsinn der Zeit, der damals die größten Geister selbst erfaßte. Er wollte nichts werden und schaffen, nur sein und ewig sein und in sich hineinströmen lassen und wieder herausströmen nach kosmischem Gesetz. Und gerade dadurch wurde seine Welt so weit und reich.

Die unsichtbare Log e
     
    »Alles, was ich tue, wenn ich von Kriegs- oder anderer Not lese, der ich nicht abhelfen kann, ist nicht zu fluchen oder zu jammern oder untätig zu sein, sondern recht tätig: nämlich – da alle dieses Elend nur aus der Immoralität mehrerer Individuen entsprungen – recht zu verwünschen und zu vermeiden die kleinste Immoralität in mir, da jede sich in fremden Wunden endigt.« Hunderte von Malen hat Jean Paul sich über das Verhältnis eigener Immoralität zu fremden Leiden in seinen Dichtungen ausgesprochen, schärfer aber hat er es nie formuliert als in diesem Aphorismus aus seiner letzten Zeit. Es gibt nur eine Tat fremdem Leid gegenüber, will dieser – im »Papierdrachen« mitgeteilte – Aphorismus sagen: keine mit dem Schwerte in der Hand oder mit Haß im Herzen, sondern nur das Besinnen auf unsern eigenen Anteil an jeder Schuld auf Erden. Es ist das »Jeder ist an Allem schuldig!« der russischen Kirche, wie es von Dostojewski in der europäischen Literatur wieder heimisch gemacht wurde. Tiefstes Geheimnis christlicher Ethik, das zum erstenmal über das Jahrhundert der Aufklärung hinweg von Jean Paul wieder gelehrt und gelebt wurde.
    »Zu verwünschen und zu vermeiden die kleinste Immoralität in mir, da jede sich in fremden Wunden endigt.« Mit einer ungeheuren kosmischen Verantwortung wird hier das sittliche Verhalten beladen, ganz anders als bei Kant, dessen kategorischer Imperativ von jeder Rückwirkung auf die Wirklichkeit abstrahiert. Diese »fremden Wunden« sind das ungeheuer Neue in der Formulierung Jean Pauls. Er konnte von keiner Auswirkung immoralischen Verhaltens absehen, gerade aus den fremden Wunden mußte ihm der starke Antrieb zur Sittlichkeit kommen. Die Welt mit ihren unzähligen Leiden taucht in das Gesichtsfeld des moralischen Menschen, mit den blutenden Wunden der Schlachtfelder und den ungetrockneten Tränen der Armen und Verfolgten. Und hinter allen diesen Wunden stehen Haß und Gier des Menschen, alle sind durch irgendeine Immoralität hervorgerufen, die irgendeiner Lust auf freventliche Weise frönen zu dürfen glaubte. Ein ungeheurer Wille zur Moralität, zur Tugend, muß aus dieser Einstellung hervorwachsen. Kant hob den sittlichen Menschen aus dem Bereich des Empirischen ins Absolute, aber der Tugendwille einer ganzen Zeit, einer

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