Sag niemals nie
Unterricht hatte sie langweilig, die strengen Vorschriften schrecklich gefunden. Von den anderen Mädchen war sie aufgezogen worden, bis sie wütend geworden war. Als Einzelkind war Anna es gewöhnt gewesen, ein Zimmer für sich zu haben. Daher hatte sie es als erstickend empfunden, mit anderen in einem riesigen Schlafsaal eingepfercht zu sein. Sie war kleiner und körperlich noch nicht so entwickelt gewesen wie die anderen Mädchen. Diese hatten bereits BHs getragen und sich für Jungen interessiert. Da Anna sich nicht anmerken lassen wollte, wie unerfahren sie war, hatte sie sich abgesondert. Schnell war sie als „hochnäsig“ abgestempelt worden.
Es war kein guter Anfang gewesen.
Darum hatte Lisette eine aufwendige Party auf Ifford organisiert. Sie hatte gehofft, Annas Stand bei ihren Klassenkameradinnen damit zu verbessern. Anna hatte sich entschieden dagegen gewehrt. Die bloße Vorstellung, ihre verhassten Schulkameradinnen zu Hause zu treffen, hatte sie entsetzt. Das Schloss war riesig und einst überaus prächtig gewesen. Inzwischen war es jedoch heruntergewirtschaftet und baufällig geworden. Nie hatten sie genug Geld gehabt, um Dächer zu reparieren und Möbel auszubessern. Außerdem hatten ihre Eltern Dinge wie Auslegeware oder moderne Elektrogeräte für völlig unwichtig erachtet. Anna war sicher gewesen, dass ihre Mitschülerinnen alles auf dem Schloss erbärmlich finden würden. Wochenlang vorher hatte sie gebetet, dass etwas passieren würde, das sie von dieser schrecklichen Party erlöste.
Ihr Wunsch war erfüllt worden.
Anna griff nach der Zahnbürste und begann, sich übertrieben gründlich die Zähne zu putzen. Es lag jetzt zehn Jahre zurück. Natürlich war sie inzwischen alt genug, um sich nicht mit Selbstvorwürfen zu quälen. Schließlich hatte sie den Unfall ihrer Mutter nicht verursacht.
Sie dachte an das Hochzeitskleid, das sich immer noch auf dem Speicher befand, und war den Tränen nahe. Etwas in ihr weigerte sich selbst jetzt noch zu glauben, dass Lisette für immer von ihr gegangen war. Irgendwie hatte sie das Gefühl, die Zeit zurückdrehen zu können, wenn sie das Château behielt … und den Tod ihrer Mutter ungeschehen zu machen.
Heute bin ich einundzwanzig, dachte Anna niedergeschlagen. Und ich träume immer noch von dem Unmöglichen.
„Ich habe etwas gefunden.“
Angelo blinzelte in die Sonne und presste das Handy fester ans Ohr. Was seine persönliche Assistentin ihm jetzt mitteilen würde, wollte er ganz genau hören.
„Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Helen.“
„Anna Field, Oktober 2003 verhaftet wegen Tierschutzaktivitäten in Oxford, nach Kautionshinterlegung freigelassen.“
Angelo war ganz still. „Das würde passen.“ „Wohnhaft in London“, fuhr Helen fort, „arbeitet in einem Bio-Restaurant, fünfundvierzig Jahre, geschieden …“ Nun stieß Angelo eine Verwünschung aus, die Helen innehalten ließ.
„Tut mir leid, Signor Emiliani, soll ich weiter vorlesen?“
Unwillkürlich sah er vor sich, wie Anna sich um den Pfahl schlängelte. „Nein“, erwiderte er scharf. „Das ist sie nicht. Sind Sie sich beim Alter ganz sicher?“
„Ja, Signore, es steht in den Polizeiakten.“
„Tja, dann suchen Sie weiter. Die Anwälte in Nizza warten immer noch darauf, dass Ifford jemanden zur Vertragsunterzeichnung schickt. Und je länger sich das hinzieht, umso mehr werden die lästigen Umweltschützer alles erschweren.“ Obwohl ihm das nach letzter Nacht sehr verlockend erschien, konnte er Anna nicht endlos an Bord festhalten.
Besonders wegen letzter Nacht. Wer weiß, was passierte, wenn er länger mit ihr zusammenblieb?
Angelo schaltete das Handy ab und warf es neben sich auf den Liegestuhl. Seufzend nahm er eine braune Mappe auf und lehnte sich zurück, um sie durchzugehen.
Nachdem er Anna in der Nacht verlassen hatte, war er wie so oft hierhergekommen, um zu arbeiten. Er schlief schlecht seit der Zeit, als er mit zwanzig anderen Kindern in einem Schlafsaal untergebracht war. Mit zwanzig anderen verlassenen Kindern. Und jedes wurde nachts von seinen eigenen Albträumen verfolgt.
Auch Angelo quälten Albträume. Deswegen verbrachte er den Rest der Nacht nie bei einer Frau, mit der er Sex gehabt hatte. Neben einem anderen Menschen einzuschlafen, war ihm zu innig, dazu fehlte ihm das Vertrauen.
So verwundbar konnte er sich niemandem zeigen. Lucia war die Einzige gewesen, neben der er eingeschlummert war. Die kleine dreijährige Lucia, die von
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