Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
körperlichen Merkmals, ihre dunkle Haut und eine übermäßige Streitsucht.«
»Handelte es sich dabei um üble Nachrede?«
»Es ist denkbar, dass sie tatsächlich leprakrank waren. Auf jeden Fall hat man sie bis zum Jahre 1689 in übertriebener Weise ausgegrenzt. Als einzige Tätigkeit war ihnen das Amt des Totengräbers gestattet.«
»Inwiefern besteht zwischen ihnen und dem Templerorden eine Beziehung?«
»Durch den ursprünglich von ihnen ausgeübten Beruf.«
»Und der war?«
»Lassen Sie mich einfach erzählen, dann werden Sie es sehen«, bat ihn Grau.
»Sehr gern.«
»Man nannte die agotes auch chrestias «, fuhr der Architekt mit einem Blick auf seine inzwischen geleerte Kaffeetasse fort. »Das bedeutet in der langue d’oc , der damals in ganz Südwestfrankreich gesprochenen Sprache, außer ›Christ‹ auch ›Kretin‹. Im Kataster der Ortschaft Semeac findet sich im 17. Jahrhundert die Eintragung champs de chrestias für die Grundstücke im Besitz der agotes . Noch heute sieht man in vielen Kirchen des Pyrenäengebietes einen Kreis und ein griechisches Christus-Monogramm als unmittelbaren Hinweis auf die agotes .«
»Und wurden sie als Ketzer exkommuniziert?«
»Nein, so weit ging man nicht«, gab Grau geduldig zur Antwort. »Sie waren frühe Christen, die sich als Steinmetze betätigten, und in diesem Beruf wurde von alters her die hermetische Lehre des Templerordens weitergegeben. Kurz gesagt, es waren Handwerker, deren Vorfahren am Bau von Salomos Tempel mitgewirkt hatten.«
»Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen«, sagte Munárriz.
»Die Theorie klingt durchaus wahrscheinlich«, erläuterte Grau. »Die Bezeichnung agote könnte sich auch von ›argot‹ herleiten, der geheimen Zunftsprache der Kathedralenbauer. Es gibt sogar einen ganz konkreten Hinweis in diese Richtung.« Ungeduldig wartete Munárriz darauf, dass Grau weitersprach.
»Im 19. Jahrhundert«, fuhr dieser fort, »als Gaudí noch relativ jung war, existierte in Frankreich ein Geheimbund von Bauleuten, an deren Spitze ein alter Steinmetz aus dem Pyrenäengebiet stand.«
»Mithin passen die Stücke des Puzzles wieder einmal zusammen …«
»Ja, und zwar verblüffend genau. Das ist aber noch nicht alles. Die agotes trugen als Teil ihrer üblichen Tracht eine phrygische Mütze, genau wie die Priester der als Große Mutter verehrten Erdgottheit Kybele, deren Kult in der gesamten hellenistischen Welt verbreitet war. Als er sich später auch im Römischen Reich durchsetzte, ließ der Senat aus dem thrakischen Pessinus den als ›schwarzer Stein‹ bekannten Aerolithen nach Rom schaffen, der als Symbol der Gottheit galt, und ihr zu Ehren einen Tempel auf dem Palatin-Hügel errichten.«
»Kybele, eine von den Steinmetzen angebetete Gottheit«, sagte Munárriz nachdenklich. »Man könnte sie geradezu als ihre Zunftpatronin bezeichnen.«
»Genau das war sie auch«, gab ihm Grau Recht. »Dem römischen Schriftsteller Arnobius zufolge soll Kybele einem Fels entsprungen sein, und zwar dem, auf dem Deukalion und dessen Gemahlin Pyrrha nach der Sintflut die Menschen zum zweiten Mal erschufen.«
»Die sogenannte phrygische Mütze war aber doch in vielen Völkerschaften verbreitet«, gab Munárriz zu bedenken, um die Hypothese des Architekten zu entkräften.
»Gewiss«, gab dieser bereitwillig zu. »Auch die hier in Katalonien unter dem Namen berretina weit verbreitete Kopfbedeckung leitet sich von ihr her – nur sind sich die Fachleute über deren Ursprung nicht einig. Zwar könnte sie unmittelbar aus Phrygien gekommen sein, doch verweisen mehrere Autoren auf eine Herkunft aus Ägypten. Vielleicht«, spekulierte er, »war auch Gaudí der Ansicht, dass seine Vorfahren aus dem Lande Hams stammten.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Im Park Güell hat er eine Karyatide geschaffen, die berühmte Lavandera . Diese Waschfrau hat verblüffende Ähnlichkeit mit der im Louvre befindlichen ägyptischen Trägerin von Opfergaben .«
»Damit wird die Sache ja immer geheimnisvoller …«
»In der Tat«, bestätigte der Architekt. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass die agotes vielleicht in grauen Zeiten aus Ägypten ausgewandert sind. Der Name könnte über die griechische oder lateinische Form für ›Ägypter‹ durch eine Lautangleichung entstanden sein. Sollte diese Theorie zutreffen, muss die Auswanderung nach der Hellenisierung stattgefunden haben, denn das griechische Wort aigyptos für ›Ägypten‹ leitet sich vom phönizischen heiligen
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