Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Aufmerksamkeit darauf zu lenken, »auf Katalanisch heißen die Volksgesänge zum Lobe der Jungfrau Maria goigs , worin der gleiche Wortstamm zu erkennen ist.«
»Sonderbar«, räumte Munárriz ein.
»Nicht wahr? Sogar außerordentlich sonderbar, wenn man bedenkt, dass die Alchemisten, wenn ihnen das Große Werk gelang, die Quintessenz, erklärten, dass sie den ›gozo‹ erreicht hatten, den Berg der Beglückung, und von ihm herab das campus stellae , das Sternenfeld, erblicken konnten. Da haben Sie Compostela und Finisterra, das finis terrae , den Ort, an dem die Christenheit seit vielen Jahrhunderten das Grab des Apostels Jakobus vermutet …«
»Und auf welche Weise ist die Familie Gaudí nach Katalonien gekommen?«, unterbrach ihn Munárriz.
»Wenn man das wüsste«, gab Grau zurück. »Der Name findet sich in unterschiedlichen Formen in Schottland, Frankreich und Preußen. Niemand weiß, welcher Gaudí als erster katalanischen Boden betreten hat. Gesichert ist lediglich, dass er im 14. oder 15. Jahrhundert gekommen ist, vermutlich aus der Auvergne. Man vermutet, dass er Handel getrieben hat, doch bin ich aufgrund meiner Nachforschungen zu der Überzeugung gelangt, dass er Steinmetz war. Später, im 17. Jahrhundert, finden sich Belege für einen Antonio Gaudí aus Saint Quentin-sur Sioule in der Gegend von Clermont-Ferrand, dessen Sohn Juan Gaudí in Riudoms eine María Escura geheiratet hat.«
»Der Vater des Architekten war Kupfer- und Kesselschmied, nicht wahr?«
»Ja. Da haben Sie übrigens gleich wieder einen Hinweis.«
»Inwiefern? Kesselschmiede stellen allerlei Gefäße her …«
»Ja, nämlich unter anderem Destillierkolben und zugehörige Rohrleitungen, wie Alchemisten sie benötigen.«
»Warum hat der Vorfahr die Auvergne verlassen?«
»Das weiß niemand«, erklärte Grau bedauernd. »Ich denke, dass er vor irgendeinem tragischen Ereignis geflohen ist.«
»Einer Revolte?«
»Das vermag ich nicht zu sagen. Dass Angehörige der Familie Gaudí im 14. Jahrhundert nach Katalonien gekommen sind, mag mit der Drangsal aller Arten zu tun haben, denen die Auvergne während des Hundertjährigen Krieges ausgesetzt war. Aber Genaues darüber weiß niemand.«
»Ein dunkler Punkt.«
»Genauer gesagt, ein Fragezeichen. Damit wird das Geheimnis noch vertieft, denn die Bewohner der Auvergne sind Nachfahren der Arverner, der mächtigsten keltischen Bevölkerungsgruppe Galliens, die im 2. Jahrhundert vor Christi Geburt ganz Aquitanien beherrschte. Caesar hat sie im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung nach einer blutigen Schlacht gegen deren Anführer Vercingetorix unterworfen.«
»Die Kelten waren mit den Geheimnissen der Natur vertraut.«
»Ich sehe, dass Sie meinen Hinweis aufgenommen haben«, erklärte Grau befriedigt. »Der erste Gaudí stammte also aus dem Süden Frankreichs, und zwar, wie ich vermute, eher aus der Gascogne, denn dort lebten die agotes oder cagots , wie die Franzosen sie nannten.«
»Eine verfluchte Sippschaft«, sagte Munárriz, der sich erinnerte, in jungen Jahren darüber gelesen zu haben.
»Sie haben sich am Westrand der Pyrenäen niedergelassen, dort, wo heute Navarra und Aragonien liegen, und ihre letzte Zuflucht haben sie im Tal von Baztan gefunden.«
»Woher sind sie eigentlich gekommen?«
»Das ist bis auf den heutigen Tag ein Rätsel«, sagte Grau seufzend. »Es gibt eine Unzahl von Theorien, aber keinerlei Belege. Manche Autoren nehmen an, dass sie entflohene Mauren oder desertierte Söldner aus dem Heer Karls des Großen waren. Andere verweisen wegen des Namens agote auf einen Ursprung aus Ägypten. Antoine Court de Gebelin zufolge sollen sie auf keltische Stämme zurückgehen, worauf die in Frankreich gängigen Begriffe cagot , caeh , cakod oder caffo verweisen, lauter altbretonische Formen, die ›schlechter Mensch‹ bedeuten.«
»Auf jeden Fall lebten sie als Ausgestoßene am Rande der Gesellschaft.«
Grau machte eine vielsagende Handbewegung. »Das einfache Volk war überzeugt, dass es sich bei ihnen um Leprakranke handelte. Die zwischen dem 12. und dem 13. Jahrhundert entstandene Gesetzessammlung des Königreichs Navarra erwähnt ihre Anwesenheit im Lande und enthält Vorschriften, die sie verpflichteten, sich von den übrigen Bewohnern des Landes fernzuhalten. Fünf Besonderheiten wurden aufgeführt, an denen man sie mit Sicherheit erkennen konnte: die Verstümmelung des Ohrläppchens, der Gestank, der sie umgab, das Vorhandensein eines besonderen
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