Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Gotteshauses hielten. Kaum jemand hörte zu, und die meisten beschäftigten sich damit, Fotos von architektonischen Einzelheiten zu machen. »Es ist, als träumte man mit offenen Augen«, sagte eine Frau andächtig.
In diesem steinernen Wald wirkten Menschen winzig wie Ameisen. Die Größe des Bauwerks war ein Sinnbild für die Vollkommenheit und Größe Gottes. Einer der Führer versuchte den Geräuschpegel seiner Gruppe zu übertönen, während er dozierte: »Der Modernismus ist das wichtigste gemeinsame Merkmal der katalanischen Architektur im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und die Sagrada Familia der Höhepunkt gigantischer Bauten in der Neuzeit. Das ursprüngliche Projekt sah achtzehn Türme mit einem Geläut aus vierundachtzig verschieden großen und unterschiedlich gestimmten Glocken vor. Wenn der Bau erst einmal fertig ist, werden an der Eröffnungsmesse über zweitausend Sänger und Sängerinnen, siebenhundert Chorknaben und fünf große Orgeln mitwirken … Nur wer sich das vorstellt, meine Damen und Herren, vermag die unermessliche Größe des Bauwerks zu erfassen …«
Munárriz ging auf den Baucontainer zu, in dem Begoña Ayllón gearbeitet hatte. Er stand in einem für die Öffentlichkeit nicht zugänglichen Bereich neben der Bauhütte. Mit einem Mal wurde er von hinten angerufen. Er wandte sich um und sah, dass ein Wachmann auf ihn zueilte.
»Der Zutritt zu diesem Teil des Geländes ist untersagt«, sagte er. Offenbar hielt er ihn für einen zerstreuten Touristen.
Munárriz holte seinen Dienstausweis hervor. Der Wachmann sah ihn lange an, als zweifelte er an dessen Echtheit, und gab ihn Munárriz dann mürrisch zurück.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte der Mann kalt.
»Señor Vázquez«, sagte Munárriz, der den Namen vom Schild an der Brusttasche seiner Uniform abgelesen hatte, »ich untersuche den Unfall von gestern. Waren Sie hier, als er geschah?«
»Nein. Eine Putzfrau hat die Leiche gefunden.«
»Dann würde ich gern mit ihr sprechen.«
»Ich werde nachsehen, ob sie hier ist. Ich glaube, sie hat heute Dienst.« Mit diesen Worten wandte sich der Mann verächtlich ab.
Während sich Vázquez auf die Suche nach der Putzfrau machte, sah sich Munárriz aufmerksam um. Inmitten von Gesteinsbrocken und Materialabfällen lagerten dort zahlreiche Granitblöcke verschiedener Größe, die mit Hilfe kleiner und großer Hebezeuge aufeinandergetürmt wurden. Unter Schutzdächern sah er Presslufthämmer, Steinmeißel, Spitzhämmer, Steinsägen, Poliermaschinen und anderes Gerät. Ein ideales Versteck. Man hatte den Container auf diesem Gelände eingerichtet, damit die Restauratorin dort in Ruhe ihrer Aufgabe nachgehen konnte. Soweit Munárriz wusste, beschäftigte sie sich mit Verfahren zur Restaurierung der ältesten Teile der Kirche. Wo immer Feuchtigkeit, Regenwasser, Umweltschmutz und Vogelkot die Steine angegriffen hatten, mussten sie gesäubert und stellenweise ergänzt oder erneuert werden.
»Sie suchen mich?«, fragte eine Frau mit leiser Stimme. Sie wirkte verschüchtert.
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«
»Ich weiß nichts«, sagte sie unsicher. »Ich hab Ihren Kollegen gestern schon alles gesagt.«
»Beruhigen Sie sich doch.« Er fasste sie freundlich am Arm und trat mit ihr einige Schritte beiseite. »Erzählen Sie mir einfach, wie Sie die Leiche gefunden haben.«
»Gewöhnlich putz ich am Freitagnachmittag bei Señorita Begoña. Vorgestern konnte ich aber nicht, weil ich da zum Arzt musste. Weil es ihr aber wichtig ist, in einem ordentlichen und sauberen Raum zu arbeiten, bin ich gestern, also am Samstag, gegen halb fünf hingegangen, da hatte ich gerade etwas Zeit. Ich brauch nur ungefähr’ne halbe Stunde.«
»Aha«, sagte Munárriz nachdenklich. »Sie haben also einen Schlüssel zu dem Container?«
»Nein … nein …«, wehrte sie ab. Offensichtlich war ihr klar, dass der Besitz eines Schlüssels Verantwortung bedeutete. »Der hängt in einem Schrank im Wachraum. Ich hab ihn mir da geben lassen.«
»Und dann?«
»Wie ich aufgeschlossen hab, lag sie da am Boden«, sagte sie. Das Entsetzen, das sie empfunden haben musste, war ihr noch an den Augen abzulesen. »Die Ärmste. So jung …«
»Haben Sie etwas angefasst?«
»Um Himmels willen, nein. Ich war ja vor Schreck wie gelähmt.«
»Haben Sie die Polizei benachrichtigt?«
»Ich hab geschrien, und dann sind Wachmänner gerannt gekommen und haben alles in die Hand
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