Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
ihn nicht identifizieren, weil er an den Händen keine Dermatoglyphen aufwies, also die Hautleisten, die eine Identifizierung über Fingerabdrücke ermöglichen. Wir haben für sämtliche Unterlagen das Aktenzeichen übernommen, unter dem ihn das zuständige Gericht in Gerona geführt hat. Es lautet GE-58-685/82. Weil das im Alltag nicht praktikabel ist, haben ihn unsere Ärzte und Schwestern einfach immer ›der Stumme‹ genannt.« Bei diesen Worten lächelte er.
»Der Stumme?«, wiederholte Munárriz, der sich das Aktenzeichen eingeprägt hatte.
»Ja, weil er nie ein Wort gesagt hat«, erläuterte der Arzt achselzuckend.
»Hat er bei dem Unfall die Sprache verloren?«, hakte Munárriz nach.
»Das wohl nicht«, sagte Freixeda, während er in der Akte blätterte, um die Aufzeichnungen der Neurologen und HNO-Spezialisten herauszusuchen. »Eine Schädigung des Sprachzentrums haben die Neurologen nicht feststellen können.« Er hob eine Scanner-Aufnahme gegen das Licht und betrachtete sie aufmerksam. »Auch bei der Untersuchung der Stimmbänder und Stimmlippen des Mannes durch den HNO-Spezialisten hat sich keinerlei Schädigung herausgestellt, die zu einer Aphasie, also einer zentralen Sprachstörung, hätte führen können. Der gesamte Sprechapparat des Patienten ist in einwandfreiem Zustand«, schloss er und legte das Blatt auf den Papierstapel zurück.
»Und was ist dann die Ursache seiner Stummheit?«, erkundigte sich Mabel.
»Er wollte wohl einfach nicht reden. Mehrere Psychologen haben mit ihm Kontakt aufzunehmen versucht, aber keinem ist es gelungen, sein Verhaltensmuster zu entschlüsseln. Er hat nicht einmal geblinzelt und immer nur starr vor sich hingeblickt. Ein außergewöhnlicher klinischer Fall.«
»Und warum hat man ihn hierher zu Ihnen gebracht?«, wollte Munárriz wissen.
»Auf Anordnung des Gerichts«, erklärte der Arzt. »Er wurde ursprünglich in einem Akutkrankenhaus von Gerona behandelt und an verschiedene Physiotherapie-Zentren überstellt, als seine Verletzungen geheilt waren. Sie sollten versuchen, ihn wieder auf die Beine zu bringen. Da das nicht gelang, kam man auf den Gedanken, dass unsere Einrichtung dank ihrer Erfahrung und ihrer technischen Einrichtungen etwas bewirken könnte. Zwar gab die Diagnose keinen Anlass zu übertriebenen Hoffnungen«, bei diesen Worten klopfte er auf die Akte, »doch gewinnen Querschnittsgelähmte in bestimmten Fällen ein Minimum an Beweglichkeit der Finger zumindest einer Hand zurück, was sie in den Stand setzt, einen elektrischen Rollstuhl oder einen Rechner zu bedienen und damit ein gewisses Maß an Selbstständigkeit zu erlangen. Doch auch bei uns hat sich der Mann einer Beteiligung an seiner Neurorehabilitation rundheraus verweigert, wie zuvor in allen anderen Einrichtungen, und nicht die geringste Bereitschaft zur Zusammenarbeit an den Tag gelegt. Da auf diese Weise alle unsere Bemühungen ins Leere gingen, haben wir nach einigen Monaten einen Bericht an die entsprechenden Stellen abgefasst, woraufhin das Gericht seine Unterbringung in einer Behinderteneinrichtung von Sant Cugat del Vallés angeordnet hat.«
»Sind Ihnen Name und Anschrift dieser Einrichtung bekannt?«, fragte Mabel.
»Ich habe sie nicht im Kopf, aber sie lassen sich bestimmt finden.«
Nach einigem Suchen fischte Freixeda die richterliche Anordnung heraus und teilte ihnen mit, dass es sich um die Einrichtung für körperlich und psychisch Behinderte namens Santa Teresa de Jesús handele, die von Karmeliterinnen geleitet wurde.
»Hier haben Sie alles, was Sie brauchen«, sagte er und gab ihnen ein Blatt.
»Lebt der Mann noch?«, fragte Munárriz neugierig.
»Das ist mir nicht bekannt. Mal sehen …«, sagte er, während er weiterblätterte. »Im Jahre 1982 hat man die Knochen seines Handgelenks untersucht, um sein Alter festzustellen, und die Gerichtsärzte sind auf etwa fünfunddreißig Jahre gekommen. Einschränkend muss ich aber sagen, dass das Verfahren nicht besonders zuverlässig ist.«
»Wenn er noch lebt«, rechnete Mabel rasch, »wäre er jetzt um die sechzig.«
»Möglich wäre es also«, bestätigte Freixeda. Dann fügte er mit einem Kopfschütteln hinzu: »Allerdings hatte er keinerlei Lebenswillen, und der ist nun einmal von grundlegender Bedeutung, vor allem, wenn jemand ständig ans Bett gefesselt ist.«
»Herzlichen Dank, Doktor Freixeda«, sagte Munárriz.
Der Leiter des Instituto Guttmann erhob sich, um die Besucher zum Ausgang zu begleiten, dann
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