Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Vorsichtig lüftete der Pfleger die Decke und ließ sie einen Blick auf die Füße werfen. In der Tat waren deren Sohlen ebenso glatt wie die Hände. Mabel stockte der Atem.
»Kann er hören, was wir sagen?«, fragte sie im Flüsterton.
»Ich denke schon«, sagte der Pfleger, während er die Füße des Mannes behutsam wieder bedeckte. »Allerdings würde ich trotz allem, was die Ärzte sagen, keinen Eid darauf ablegen. Seine schwere Rückenmarksverletzung hat zu einer Querschnittslähmung vom Hals abwärts geführt, weshalb er nur noch atmen und den Kopf ein wenig bewegen kann.«
»Man hat den Eindruck, als läge er mit offenen Augen im Koma«, sagte Mabel.
»Ja, so ungefähr ist es wohl auch. Es heißt, dass er stumm ist, aber ich denke eher, dass er unsere Sprache nicht versteht.«
»Sie meinen, er könnte Ausländer sein?«, erkundigte sich Munárriz.
»Ja. Das ist aber nur eine Vermutung. Sor Guadelupe, eine der Schwestern hier, hat über das nationale und internationale Rote Kreuz wie auch über verschiedene Karmeliterinnengemeinschaften nach Angehörigen suchen lassen, aber ohne jedes Ergebnis. Sie hat Fotos verschickt, Briefe geschrieben und Verbindung mit einer ganzen Reihe von Botschaften und Konsulaten aufgenommen – es gab keinerlei Hinweise auf seine Herkunft. Es ist fast so, als ob er gar nicht existierte.«
»Und haben Sie eine Theorie?«, erkundigte sich Mabel interessiert.
»Ich denke, er ist ein armer Teufel, ein illegaler Einwanderer, der mit seinem Diebstahl auf leichte Weise an etwas Geld kommen wollte. Vielleicht war er ja auch Seemann.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Munárriz, der keinen Grund für diese Annahme sah.
»Bei einer Routineuntersuchung vor ein paar Jahren hat sich herausgestellt, dass er einen kariösen Backenzahn hatte«, erläuterte der Pfleger. »Also haben wir einen Zahnarzt kommen lassen, und der hat unter seiner Zunge eine Tätowierung entdeckt.«
»Eine Tätowierung unter der Zunge?«, wiederholte Mabel, die schlecht gehört zu haben glaubte.
»Ja. Tätowierungen findet man bei Seeleuten.«
»Auch bei einem Haufen anderer Menschen«, wies Mabel seine Theorie zurück.
»Ja, heutzutage«, berichtigte der Pfleger, »inzwischen lassen sich tatsächlich die meisten jungen Leute tätowieren, aber vor dreißig oder vierzig Jahren war so was nur bei Seeleuten üblich.«
»Ob wir das mal sehen könnten?«, fragte Munárriz.
»Das wird nicht einfach sein. Man kann seine Kiefer kaum bewegen; deshalb wird er mit einer Magensonde ernährt. Ich will es aber mal versuchen.«
Mit dem Löffel aus einem Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand, drückte er leicht auf die Lippen des Gelähmten. Dieser stieß einen leisen Knurrlaut aus, als litte er an einem Albtraum, aus dem er nicht erwachen konnte. Nachdem es dem Pfleger gelungen war, den Löffel zwischen den Zähnen einzuführen, drückte er den Unterkiefer ein wenig nach unten und hielt dem Mann die Nase zu, damit er durch den Mund atmen musste. Dann hob er mit dem Löffelstiel die Zunge an.
»Sehen Sie«, sagte er und wies auf eine kleine Tätowierung, die aussah, als säße ein Hahn auf einem Hundekopf.
»Großer Gott!«, stieß Mabel hervor, der sich bei dem Anblick der Magen umdrehte. »Wieso um Gottes willen lässt sich jemand an einer so empfindlichen Stelle tätowieren?«
»Keine Ahnung«, gab der Pfleger zurück. »Immerhin gibt es Bekloppte, die sich die Eichel tätowieren lassen, und manche Frauen lassen sich Metallringe durch die Brustwarzen und die Schamlippen ziehen.«
Munárriz wollte noch eine weitere Frage stellen, doch der Pfleger wies auf seine Armbanduhr zum Zeichen, dass der Besuch zu Ende war. Er musste sich noch um andere Patienten kümmern und hatte keine Lust, wegen dieser beiden noch später Feierabend zu machen. Da sie seine Hilfsbereitschaft nicht überstrapazieren wollten, dankten sie ihm und gingen.
»Na, was hältst du davon?«, fragte Munárriz, als sie in Mabels Corsa stiegen, weil er überzeugt war, dass sie dort niemand hören würde.
»Ich denke, ich werde meine Reportage über namenlose Tote auf der ersten Seite bringen«, sagte sie, ohne ihr befriedigtes Lächeln zu verbergen. »Ich muss nur noch feststellen, ob die in Bogatell angetriebene Leiche ebenfalls keine Papillarleisten an den Füßen hat. Der Polizeibeamte hat darüber nichts gesagt.«
»Ja, ja, die Polizei behält immer Informationen zurück«, sagte Munárriz in Gedanken versunken.
»Als ob ich das nicht
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