Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
verabschiedete er sich und kehrte in sein Büro zurück.
»Nach Sant Cugat?«, begehrte Munárriz auf.
»Das dauert höchstens ein paar Stunden«, hielt ihm Mabel entgegen. »Danach nehm ich mir den Rest des Tages frei, und wir tun, was du möchtest.«
»Wirklich?«, sagte Munárriz und zwinkerte ihr zu, worauf sie mit einem Lächeln ihr Einverständnis signalisierte. »Auf, lass uns keine Zeit verlieren!«
Kurz vor dem Ortsschild von Sant Cugat sahen sie einen Wegweiser zur Einrichtung Santa Teresa. Sie bogen ab und gelangten über einen unbefestigten Waldweg voller Schlaglöcher an einen freien Platz im Schatten riesiger Platanen. Von dort gingen sie zu Fuß zu dem von außen leicht verwahrlost wirkenden Gebäude mit vergitterten Fenstern, das aus dem 19. Jahrhundert zu stammen schien.
Sie traten ein und folgten einem langen schmalen Gang, bis sie auf eine schon ältere Nonne trafen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
»Wir würden gern einen Ihrer Heimbewohner besuchen«, erklärte Mabel und neigte ehrerbietig den Kopf.
»Es ist schon fast sechs«, gab die Nonne zurück, als wäre das ein Hinderungsgrund.
»Wir werden nicht lange bleiben.«
»Kommen Sie mit.«
Mabel fasste die Frau am Arm, da ihr das Gehen auf dem mit gebrannten Ziegeln bedeckten Boden schwerzufallen schien. Nach einer Weile erreichten sie einen größeren Raum, in dem sich mehrere Patienten befanden. Einige saßen im Rollstuhl, andere in mit Skai bezogenen Sesseln. Keiner von ihnen war jung, und alle stierten mit leerem Blick vor sich hin. Manchen lief der Speichel aus dem offenen Mund auf das Hemd, und einer bewegte den Kopf wie ein Uhrpendel. Die Nonne trat auf einen Pfleger zu, der am Boden kniete und dabei war, die von Krampfadern starrenden Waden einer alten Frau zu verbinden.
»Carbonell …«
»Schwester Leonora«, gab der Mann zurück, ohne den Blick zu heben.
»Kümmern Sie sich bitte um die Herrschaften«, bat sie. »Sie möchten jemanden besuchen.«
»Sobald ich hier fertig bin«, gab er liebenswürdig zurück. »Es dauert nicht mehr lange.«
»Danke«, sagte Schwester Leonora. Sie wandte sich Mabel zu und sagte mahnend: »Beim nächsten Mal kommen Sie etwas früher. Die Besuchszeit endet um sechs Uhr.«
Freundlich grüßte sie einige der Insassen, die ihr etwas zuriefen, gab zweien von ihnen Bildchen mit dem Porträt des italienischen Volkspriesters und Wunderheilers Pater Pio und verließ den Raum mit müdem Schritt und gekrümmtem Rücken, wobei sie auf Latein eine Anrufung des Herrn vor sich hin murmelte.
»Zu wem wollen Sie?«, erkundigte sich der Pfleger.
»Zu dem Mann, den der Richter in Gerona vom Instituto Guttmann hierher hat überweisen lassen«, sagte Munárriz. »Seinen Namen wissen wir nicht, aber wenn es Ihnen etwas nützt, kann ich Ihnen das Aktenzeichen seiner Patientenakte sagen.«
»Nicht nötig«, gab der Mann mit breitem Lächeln zurück. »Vermutlich meinen Sie den, der die Kathedrale berauben wollte.«
»Ja«, gab Mabel zurück. »Woher wissen Sie das?«
»Außer ihm haben wir hier keinen aus Gerona. Kommen Sie bitte mit.«
Er führte sie vor eine Tür und ließ sie eintreten.
Sie sahen einen Mann, der mit offenen Augen auf dem Rücken im Bett lag, den Blick unverwandt auf die Kugellampe an der Decke geheftet. Sein Gesicht voller Bartstoppeln war bläulich angelaufen. Er sah älter aus, als man nach der Schätzung der Gerichtsärzte vermutet hätte. Der einzige Hinweis darauf, dass er lebte, war, dass sich seine Brust beim Atmen leicht hob und senkte.
»Was ist der Grund für Ihren Besuch?«, fragte der Pfleger neugierig.
»Wir müssen etwas feststellen«, erklärte Mabel. Munárriz wies seinen Dienstausweis vor, um der Sache einen offiziellen Anstrich zu geben. Der Pfleger nickte stumm.
»Könnten Sie uns seine Hände zeigen?«, bat Munárriz.
»Aber selbstverständlich. Die sind vollständig glatt. Deswegen konnten ihn Ihre Kollegen damals auch nicht identifizieren.« Der Pfleger schob das Bettlaken ein wenig zurück, nahm die Rechte des Mannes und drehte sie um. Tatsächlich sahen die Handfläche und die Finger aus, als wäre jemand mit einem heißen Bügeleisen darübergefahren. »Sie sind mit großer Wahrscheinlichkeit verätzt worden«, erläuterte er.
»Vermutlich ein Unfall«, sagte Munárriz, um die Sache herunterzuspielen.
»Das glaube ich nicht«, hielt der Pfleger dagegen. »Seine Füße sehen nämlich genauso aus.«
Die Besucher hoben fragend die Brauen.
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