Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
chiliastisch bezeichnen.«
»Können Sie das bitte näher erklären?«
»Es bedeutet, dass er vom unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt überzeugt war.«
»Aha.«
»Zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert«, fuhr der Bibliothekar fort, »las man die Comentarios des Beatus in den Klöstern Kastiliens und Leóns gründlich und fertigte bis ins 13. Jahrhundert eine ganze Anzahl von Kopien an. So gibt es Beatus -Handschriften oder Teile davon noch heute in Santo Domingo de Silos, in der Morgan Library von New York, hier bei uns in der Nationalbibliothek, der Universität von Valladolid, in la Seu de’ Urgel, der Kathedrale von Burgo de Osma und an einer ganzen Reihe weiterer Orte. Das Exemplar, das dem Original am nächsten kommt und überdies die besten und vollständigsten Abbildungen aufweist, wird in der Kathedrale von Gerona aufbewahrt. Dieses Meisterwerk aus dem 10. Jahrhundert ist dank der Mitarbeit einer begabten Buchmalerin, einer Nonne namens Sor Ende, im Kloster von Tábara entstanden. Manche dieser Bücher«, fügte er sozusagen als Nachtrag hinzu, »haben die Begierde von Dieben geweckt, weil jedes Exemplar einen Wert von rund zwanzig Millionen Euro darstellt.«
»Worum geht es eigentlich in diesen Handschriften?«
»Im Wesentlichen folgen die Texte und Bilder der Offenbarung des Johannes. Bei dieser Vision vom Ende der Welt führen die drei unreinen Geister die Könige der ganzen Welt am mythischen Ort Harmagedon zum großen endzeitlichen Kampf gegen Gott zusammen.«
»Womöglich erscheint Ihnen meine Frage sonderbar – aber könnte zwischen den von der bewussten Benutzerin im Cervantes-Lesesaal eingesehenen Werken und den Beatus -Handschriften eine Beziehung bestehen?«
»Ja und nein«, gab der Bibliothekar zur Antwort. »Im Sinne der herrschenden Lehrmeinung ist die dem Apostel Johannes zugeschriebene Offenbarung üblicherweise das letzte kanonische Buch des Neuen Testaments. Allerdings lässt die Wissenschaft das aufgrund von Stilvergleichen mit anderen ionischen Schriften nicht gelten. Für Menschen, die der Lehrmeinung der römischen Kirche nicht folgen, schließt das Werk die Geheimnisse der Alchemie in sich, insbesondere solche der Element-Umwandlung. Man darf nicht vergessen, dass das griechische Substantiv apokálypsis nichts anderes als ›Enthüllung‹ oder eben ›Offenbarung‹ bedeutet.«
»Und sollen damit die Geheimnisse der Alchemie enthüllt werden?«, fragte Munárriz, um dem Mann eine genauere Aussage zu entlocken.
»Denkbar wäre es«, gab dieser ausweichend zur Antwort. »Nach Ansicht der Kabbalisten beschreibt Johannes in seiner Offenbarung eine Reihe von Traumvisionen, die mit der Zahl Sieben in Verbindung stehen, der magischen Zahl der Alchemisten schlechthin. Es gab sieben Planeten und ursprünglich sieben Metalle, und jedem der Planeten entsprach in der hermetischen Lehre eines von ihnen. Darüber hinaus«, vertiefte er seine Erklärung, »führt Johannes in seiner Offenbarung eine bemerkenswerte Zahlenmystik ein. Am besten lesen Sie einmal die Kapitel elf und zwölf, dann sehen Sie schon, was ich meine. Außerdem wird immer wieder auf Fabelwesen verwiesen, die nach Art der Metalle verwandelt werden. Und als ob das nicht genügte«, fuhr er fort, »nennt er im Kapitel dreizehn zum ersten und einzigen Mal die Zahl sechshundertsechsundsechzig, die ›Zahl des Tieres‹. Sie schließt die dreifache Dreiheit in sich, das Wissen, das in die Alchemie einführt.«
»Das Buch enthält also tatsächlich alchemistische Schlüsselbegriffe.«
»So sagt es die hermetische Deutung. Die letzte Vision des Johannes zeigt das himmlische Jerusalem, eine von Gold, Silber und Edelsteinen glänzende Stadt. Sie steht als Sinnbild für Gottes Unwandelbarkeit, denn sie ist von einer viereckigen Mauer umgeben, und in der Bibel bezieht sich die Zahl vier auf die Vollkommenheit. An den vier Ecken des Mauerquadrats erheben sich als Symbol für die Evangelisten vier Türme«, fuhr er fort, »und die zwölf Tore verweisen unmittelbar auf die Apostel, die Stämme des Volkes Israel sowie auf die Zeichen des Tierkreises. Die wichtigsten ikonographischen Darstellungen des himmlischen Jerusalem«, setzte er hinzu, damit Munárriz die Bedeutung der Symbole erfasste, »stammen aus dem Mittelalter, das heißt, aus einer Zeit, da die Alchemie in voller Blüte stand, und sie finden sich an verschiedenen heiligen Orten wieder, unter anderem in den Mosaiken der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom. Die
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