Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
das darunter liegende Stockwerk, schob seinen Sessel nahe an den Ofen und legte einige Kiefernscheite nach. Beim Geruch des Harzes, der den Raum durchdrang, musste er unwillkürlich an seine Jugendjahre denken, in denen er auf einem Teppich vor dem Kamin gelegen und Der alte Mann und das Meer gelesen hatte, während draußen der Regen über die Scheiben lief und seine Mutter den Rosenkranz der Jungfrau von Carmen betete, der Schutzpatronin der Seefahrer, damit ihr Mann heil und gesund in den Hafen zurückkehrte.
9
A n ihrem Arbeitsplatz in der Redaktion schaltete Mabel gleich als Erstes den Rechner ein, um nachzusehen, ob auf ihrem speziellen E-Mail-Konto Post eingegangen war. Die von ihr einige Tage zuvor unter »Verschiedenes« eingerückte Anzeige hatte Dutzende Reaktionen der unterschiedlichsten Art hervorgerufen. Manche waren obszöner Natur und hatten Bilder im Anhang, die Sodomie treibende Personen zeigten, in anderen priesen die Betreiber von Hundezwingern und Geflügelhöfen die Ergebnisse ihres Züchterfleißes an, suchten Junggesellen Kontakt, schickten verhinderte Lyriker Loblieder auf die Tierliebe des Menschen … Jedem Narren seine Kappe , ging es ihr durch den Kopf, während sie die Ergießungen der anonymen Verfasser las, denen die Phantasie durchgegangen zu sein schien. Sie löschte all diese Mitteilungen, kaum dass sie deren Inhalt flüchtig zur Kenntnis genommen hatte.
Jetzt zeigte ein auf dem Bildschirm blinkendes Smiley an, dass wieder eine Mail eingegangen war. Aus reiner Gewohnheit klickte sie sie an und las: »Hund und Hahn gehen gemeinsam ihren Weg, ohne Spuren zu hinterlassen.« Sie sah darin keinen Sinn. Wieder so ein Witzbold, der sich langweilte. Sie wollte schon die Mitteilung wie alle vorigen löschen, doch dann hielt sie inne. Ihr fiel auf, dass sie den Text ihrer Anzeige Wort für Wort wiederholte und ihm den Nachsatz angefügt hatte: »… ohne Spuren zu hinterlassen.« Sie las sie immer wieder. Nach einer Weile fiel ihr auf, dass im Unterschied zu allen anderen Mitteilungen kein Absender angezeigt wurde. Sie nahm den Hörer ab und rief Munárriz an, um mit ihm darüber zu sprechen.
»Sonderbar«, sagte er. »Wer auch immer dahintersteckt, hat dir eine verschlüsselte Antwort geschickt.«
»Sicher«, gab sie zurück, »aber vielleicht hab ich den Schlüssel schon gefunden. Könnte sich der Hinweis auf die ›Spuren‹ nicht darauf beziehen, dass die beiden Männer mit der tätowierten Zunge keine Fingerabdrücke hinterließen? Dieser Gedanke hat mich überhaupt daran gehindert, meinem ersten Impuls zu folgen und die Mail zu löschen. Falls da tatsächlich eine Beziehung besteht, bin ich sicher, dass der Absender bei uns vorfühlen wird, um zu erfahren, welche Absicht wir mit der Anzeige verfolgen.«
»Da könntest du Recht haben …«
»Soll ich antworten?«
»Wir müssen jedem Hinweis nachgehen, der sich anbietet«, entschied er. »Wenn dein Kontakt mit dir Rätselraten spielen will, nur zu. Schick ihm noch mal eine unklare Botschaft und halt mich auf dem Laufenden. Da scheint jemand angebissen zu haben.«
Mabel legte auf und schrieb: »Wer keine Spuren hinterlässt, ist niemand, ähnlich wie ein Hahn ohne Kamm oder ein Hund ohne Herrn …« Sie schickte die Mail ab und wartete. Es dauerte nicht lange, bis erneut ein Smiley auf dem Bildschirm aufblinkte. Sie klickte die Nachricht an – es war die Antwort auf ihre Mitteilung: »Wollen Sie wissen, wie es dazu kam, dass der Hahn seinen Kamm und der Hund seinen Herrn verloren hat?« Es gab ihr einen Stich. Ihre Hände schwitzten. Dahinter steckte kein Spaßvogel. Jemand wollte Kontakt aufnehmen. Sie schrieb einfach »Ja« und klickte auf »Senden«. Die Antwort kam genauso prompt wie die vorige. »Morgen um sechzehn Uhr dreißig in der Bar Zurich.« Sie druckte sie aus, um sie Munárriz zu zeigen, und erkundigte sich mit einer weiteren Mail, woran sie einander erkennen würden. Sie wartete ungeduldig auf die Antwort, aber es kam keine.
Die Bar Zurich lag in der Altstadt an der Plaza Catalunya. Sie war brechend voll, als Mabel und Munárriz dort eintrafen, was sicherlich damit zusammenhing, dass zahlreiche Barcelona-Stadtführer sie als »typisch« rühmten. Wie sollte man bei all dem unablässigen Kommen und Gehen feststellen, wer sich mit ihnen treffen wollte? Manche Touristen kamen ausschließlich, um Fotos zu machen, und andere wollten lediglich die Toilette benutzen.
Mit dem Rücken an die Bar gelehnt, ließen
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