Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
größten und herrlichsten Tempels aller Zeiten nicht über eine hinreichende Zahl gut ausgebildeter Arbeitskräfte, und so bat er König Hiram von Tyros um Unterstützung. Dieser schickte ihm einen bedeutenden Baumeister, der ebenfalls Hiram hieß, Sohn einer Mutter aus dem israelitischen Stamm Naphtali und eines Vaters aus Tyros. Er sollte die Pläne entwerfen und den Bau überwachen. Angesichts der Größe des Vorhabens ließ er die besten Maurer und Steinmetze aus Phönizien kommen. Unter ihnen befand sich ein Gaudí, der, wie du dir denken kannst, damals noch nicht diesen Namen trug.«
»Ein phönizischer Vorfahr?«, fragte Antonio, mit einem Mal an der Geschichte interessiert.
»So heißt es in unserer Familienüberlieferung«, bekräftigte der Alte. »Kommt dir das sonderbar vor?«
»Nein, Vater, genau genommen bestehen gewisse Ähnlichkeiten zwischen uns Katalanen und den Phöniziern«, sagte er mit einem Lächeln.
»Sieben Jahre dauerte der Bau von Salomos Tempel«, fuhr der Alte fort, »und als er fertig war, beschloss unser Vorfahr, in Israel zu bleiben, wo er seiner Arbeit weiter nachgehen zu können hoffte, denn der König wollte außerdem noch drei Paläste bauen.«
»Die Phönizier hatten schon immer ein gutes Gespür für geschäftliche Möglichkeiten.«
»Salomo ließ aus dem Holz von Libanon-Zedern ein prunkvolles Gebäude für offizielle Empfänge errichten, darüber hinaus den Palast, in dem er selbst wohnte, und einen weiteren für seine Gemahlin, die Tochter des ägyptischen Pharaos …«
»Und unser Vorfahr hat daran mitgewirkt.«
»So ist es. Er legte dabei eine solche Hingabe, Fähigkeit und Meisterschaft an den Tag, dass König Salomo Wohlgefallen an ihm fand, ihm seine Freundschaft schenkte und ihn über alle königlichen Bauhandwerker setzte. Nach der Vollendung der drei Paläste«, fuhr er fort, »die insgesamt dreizehn Jahre in Anspruch nahm, war unser Vorfahr schon recht alt. In den dreißig Jahren, die er jetzt schon in Israel lebte, hatte er sich an das Leben der jüdischen Gesellschaft gewöhnt, und beschloss, bis zum Ende seiner Tage dort zu bleiben, zumal er keinerlei Wurzeln mehr in Tyros hatte.«
»Hat er auch die Religion des Landes übernommen?«
»Wer kann das wissen?«, gab der Vater achselzuckend zurück. »Jedenfalls gab ihm König Salomo kurz vor seinem Tod zum Dank für alles, was er geleistet hatte, dieses kleine Goldkreuz mit den Worten: »Eher dein Leben als das Kreuz.« Auf die gleiche Weise übergebe ich es jetzt dir, wie es die Überlieferung verlangt.«
»Eine so hohe Ehre steht mir nicht zu, Vater«, sagte der Architekt bekümmert.
»Glaub mir, mein Junge, es ist eher eine Last als eine Ehre«, gab der Vater zurück und ließ Antonios Hand los, »denn mit dem Kreuz ist der Auftrag verbunden, sein Geheimnis selbst um den Preis unseres Lebens zu bewahren.«
»Und hat noch niemand den Sinn der Zeichen entschlüsselt?«, fragte Antonio.
»Bisher nicht, obwohl es sicherlich jeder unserer Vorfahren versucht hat«, gab der Vater zurück. »Ich selbst«, gestand er niedergeschlagen, »habe ganze Nächte damit zugebracht, doch ohne Ergebnis.« Antonio sah ihn erstaunt an. »Nun ja«, erläuterte der Vater mit einem Lächeln, »in eben der Überlieferung, von der ich dir gerade berichtet habe, heißt es, dass König Salomo, der Sohn Davids, unserem Vorfahren einen Teil seiner unendlichen Weisheit hinterlassen wollte.«
»Eine Weisheit, die er von Gott selbst empfangen hatte …«
»So sagt es die Heilige Schrift. Als Letztes«, schloss der Alte, »heißt es in der Überlieferung, dass sich unser Vorfahr, als er alt und gebrechlich war, jenseits des Jordans niederließ, in einem Land, das den griechischen Namen Gaulanítide trug. Deshalb, heißt es, habe er den Spitznamen ›gaulanita‹ bekommen, woraus im Laufe der Jahrhunderte Gaudí geworden sei.«
»Eher dein Leben als das Kreuz«, wiederholte der Architekt nachdenklich die Worte des Vaters und schloss die Faust fest um das Kleinod.
»Vergiss diesen Satz nie, mein Junge.«
»Vater«, sagte Antonio, von der Last der ihm auferlegten Verantwortung bedrückt, »ich habe niemanden, dem ich es hinterlassen kann.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, beruhigte ihn der Alte. »Gott wird dafür sorgen, dass Sein Wille geschieht. Er wird einen Weg finden.«
Antonio Gaudí beschwor mit einem feierlichen Eid, dass er das Kreuz höher schätzen werde als sein Leben, dann legte er es in seinem Arbeitszimmer
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