Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
hervorgegangen wie das, das jetzt an seiner Kette wie ein Uhrpendel zwischen seinen zitternden Fingern hin und her schwang. Als es ihm der Vater mit den Worten gegeben hatte: »Eher dein Leben als das Kreuz«, war er schon so schwach gewesen, dass sein Atem kaum noch für diesen letzten Satz ausgereicht hatte. Francisco Gaudí hatte verstanden, was damit gemeint war, und das Kreuz nie jemandem gezeigt. Nicht einmal seine Ehefrau Antonia Cornet wusste etwas von dessen Existenz. Das Geheimnis der Familie Gaudí war gehütet worden, bis zu diesem Tag.
Francisco Gaudí hatte das Haus nicht verlassen, weil er sich matt fühlte. Die Beschwerden des Alters quälten ihn, und seine Kräfte nahmen von Jahr zu Jahr mehr ab. Wie jeder Sterbliche kannte er die ihm vorbestimmte Sterbestunde nicht. Zuvor aber musste er unbedingt das ihm anvertraute Geheimnis weitergeben. Dieser Pflicht durfte er sich auf keinen Fall entziehen. Deshalb schien ihm nun die Stunde gekommen zu sein, das kleine Kreuz, das er selbst so lange eifersüchtig gehütet hatte, seinem geliebten Sohn Antonio anzuvertrauen. Er war alt genug, um die Bedeutung des Geheimnisses zu begreifen, das sich dahinter verbarg. Es bereitete dem Vater Sorge, dass Antonio nach wie vor unverheiratet war. An wen würde er das Geheimnis einer langen Kette von Generationen weitergeben, sofern er ohne Nachkommen blieb? Er musste sich einfach darauf verlassen, dass der Herr im Himmel auf die eine oder andere Weise für eine Lösung sorgen würde.
Schon seit einem vollen Jahrzehnt arbeitete sein Sohn Antonio am Bau der Sagrada Familia . Mehr oder weniger von dem Tag an, da ihm José María Bocabella dieses Werk anvertraut hatte, war im Leben seines Sohnes eine bemerkenswerte Wende eingetreten. Er hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem sechzehnjährigen Jüngling, der 1868 zum Studium nach Barcelona gegangen war, und auch nicht mit dem jungen Bohémien, der im Stadtviertel Borne an der Plaza de Montcada im Haus mit der Nummer 12 über einer Metzgerei gewohnt hatte. Schweigend hatte Francisco Gaudí die Verwandlung im Wesen seines Sohnes verfolgt. Als junger Architekt hatte er sich eitel und hochmütig gezeigt, mit hochfahrender Gebärde Goethe-Gedichte rezitiert, war in der Studentenverbindung Niu Guerrer aktiv gewesen, die sich über hochgestellte Persönlichkeiten und Nationalhelden Kataloniens lustig machte; er war Stammgast in der Oper und im Theater gewesen und stets wie aus dem Ei gepellt herumgelaufen – ein Dandy, wie er im Buche stand. Eingekleidet hatte er sich ausschließlich in den besten und teuersten Geschäften der Stadt, hatte Glacéhandschuhe getragen, nach Maß gefertigte Filzhüte und Maßschuhe nur von den ersten Schuhmachern. Er hatte gern in den teuersten Restaurants gespeist und sich häufig bei musikalischen Soireen gezeigt. Auch hatte er kein Hehl aus seiner antiklerikalen Einstellung gemacht und die Priesterschaft in dem von ihm gemeinsam mit seinem unzertrennlichen Freund Eduardo Toda herausgegebenen Manuscrito de Poblet sogar als »Schwarm schwarzen Geier« tituliert.
Doch sobald er die Verantwortung für den Bau der letzten im Geist der Gotik errichteten Kathedrale Europas übernommen hatte, war mit ihm ein grundlegender Wandel vor sich gegangen. Mit seinen inzwischen zweiundvierzig Jahren trumpfte er nicht mehr besserwisserisch auf, sondern hielt sich zurück und lebte außerordentlich bescheiden. Nicht nur hatte er jeder Frivolität entsagt und das gesellschaftliche Leben aufgegeben, er trug auch nur noch einfache und billige Kleidung, aß maßvoll, weil er es als Völlerei ansah, sich satt zu essen, wie es der heilige Thomas von Aquin in seiner Summa theologica sagt. Seit Jahren ernährte er sich ausschließlich von Nüssen, Rübenbrei und Brot, auf das er sich ein wenig Honig strich, sowie mit Milch oder ein wenig Öl angemachtem Kopfsalat.
Er hatte sich von seiner antiklerikalen Vergangenheit losgesagt, die er als Jugendsünde und Anekdote seines früheren Lebens ansah, und folgte seit Jahren begeistert dem Kreuz Christi. Seinem früheren Spott über die Religion hatte er ebenso entsagt wie seiner mangelnden Achtung gegenüber den Priestern, und er erflehte in seinen Gebeten Vergebung für die von ihm einst geäußerten Schmähungen. Diese Hingabe an die Religion ging so weit, dass sie den Vater zu beunruhigen begann. Vieles von dem, was Antonio tat, verstand er nicht. Zu Zeiten des Urchristentums hatten sich die Gläubigen mit Fasten
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