Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
gefallen wäre.«
»Um was für ein Buch geht es da eigentlich?«
»Um ein altes, empfindliches Buch aus dem 19. Jahrhundert, das ein auf Sakralbauten der Gotik spezialisierter französischer Architekt geschrieben hat.«
»Genügen die Verdachtsmomente für eine neue polizeiliche Untersuchung?«
»Kaum.«
»Und was wirst du tun?«
»Ich weiß nicht …«
»Willst du dich weiterhin im Hintergrund halten?«
»Unbedingt. Ich kann es mir unmöglich leisten, mich da einfach einzumischen. Die Regionalpolizei hat den Fall untersucht und abgeschlossen. Wenn ich da Zweifel anmeldete, würde das zwangsläufig so aufgefasst, als ob ich ihre Fähigkeiten in Frage stelle. Sollte sich dann herausstellen, dass ich mich geirrt habe, würde man mir in meiner Dienststelle den Stuhl vor die Tür setzen, und ich wäre plötzlich viele Jahre früher als geplant Ruheständler im Haus meiner Eltern in Elanchove.«
»Hast du das denn noch immer?«
»Vor ein paar Monaten habe ich sogar angefangen, es wieder herzurichten.«
»Dann könnten wir doch auf ein paar Tage da hinfahren«, regte sie an. Sie konnte sich gut darin erinnern, wie schön es bei einem früheren Aufenthalt dort gewesen war. »Wir gehen am Strand spazieren, an der Ría de Mundaca entlang, durch die Dörfer an der Küste … Wir könnten zur Insel Chacharramendi fahren.«
»Mir stehen noch ein paar Tage Urlaub zu«, gab er begeistert zurück. »Hättest du wirklich Lust dazu?«
»Mit dir würde ich überallhin auf der Welt gehen«, sagte sie einschmeichelnd. »Aber kein Ort wäre mir lieber als Elanchove.«
»Ja, da ist man weit vom Schuss und kann alle Schwierigkeiten des Alltags vergessen«, sagte er nachdenklich.
»Heißt das ja?«
»Lass mir ein bisschen Zeit, um meine Arbeit zu organisieren. Zuerst muss ich mit meinen Vorgesetzten reden, damit die für die Dauer meiner Abwesenheit einen Stellvertreter benennen.«
»Gut«, gab sie sich zufrieden. »Wir nehmen uns ein paar Tage frei, sobald wir können.«
»Wollen wir jetzt essen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln.
»Zuerst müssen wir anstoßen.« Bei diesen Worten hob sie ihr Glas. »Auf uns, und darauf, dass wir uns nie wieder trennen.«
In den fünfzehn Jahren seiner Tätigkeit als vereidigter Wachmann in der Sagrada Familia hatte César Vázquez den Bau und das dazugehörige Gelände wie seine Westentasche kennengelernt. Zahllose Male war er auf die höchsten Turmspitzen gestiegen, hatte tagelang die Krypta bewacht, in der Meister Gaudí dank einer Bulle von Papst Pius XI. seine letzte Ruhestätte gefunden hatte, kannte jeden einzelnen der an der letzten in Europa im Geist der Gotik errichteten Kathedrale tätigen Arbeiter, Sakristane und Ministranten wie auch sämtliche Priester, die dort die Messe lasen, war aber zu niemandem je in eine nähere persönliche Beziehung getreten. Bei der Erledigung seiner Aufgaben war er umgänglich und sogar zuvorkommend, verhielt sich aber stets zurückhaltend und verschlossen. Für die Menschen, an deren Seite er Tag für Tag arbeitete, war sein Privatleben ein eifersüchtig gehütetes Geheimnis.
Nie gesellte er sich am Ende eines Arbeitstages zu seinen Kollegen, um mit ihnen zu plaudern, ein Glas Bier oder eine Tasse Kaffee zu trinken. Er nahm am gesellschaftlichen Leben der anderen in keiner Weise teil. Den gemeinsamen Mahlzeiten zu Weihnachten entzog er sich Jahr für Jahr mit irgendwelchen Ausflüchten. Nie beteiligte er sich an den von verschiedenen Sicherheitsfirmen veranstalteten Fußball-Wettspielen der Wachleute. Es kam nur selten vor, dass er seinen vollständigen Jahresurlaub nahm, und wenn sich ein Kollege krank meldete, vertrat er ihn bereitwillig. Wollte jemand aus familiären Gründen eine andere Schicht als die ihm zugewiesene arbeiten, tauschte er ohne zu zögern mit ihm, wenn er nicht sogar dessen Dienst zusätzlich übernahm. Während der Christmette, die an Heiligabend um Mitternacht in der Krypta gefeiert wurde, erbot er sich aus freien Stücken zum Wachdienst. Weder die Kälte, noch die vielen Stunden, die er dort stehen musste, schienen ihm das Geringste auszumachen.
Tag für Tag verschwand er nach Feierabend still und leise, eine namenlose Gestalt in der Menge jener, die am Bahnhof Sagrada Familia in die U-Bahn strömten. Da er nicht gern in überfüllte Wagen einstieg, wartete er lieber auf dem Bahnsteig auf den nächsten Zug, um ohne Gedränge und Geschiebe nach Hause zurückkehren zu können. Sobald er mit vielen Menschen
Weitere Kostenlose Bücher