Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
auf engem Raum zusammen war, überfiel ihn eine Beklemmung, die ihm den Atem nahm und ihn drängte, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Ebenso erging es ihm in Aufzügen. Als Kind hatte man ihn einmal zur Strafe in einen dunklen Raum gesperrt, wo er wegen einer Atemlähmung fast erstickt wäre. Die Ärzte sagten, er leide an Klaustrophobie.
Er hatte weder Verwandte noch Freunde. Genau genommen hatte er nicht einmal eine Familie. Seine Eltern hatten ihn schon früh in ein Heim gegeben, das eigentlich Findelkinder und Waisen aufnahm, und seine Kindheitserinnerungen beschränkten sich auf die Gewänder der Nonnen, deren Hauben ihm wie die Flügel vorsintflutlicher wilder Tiere erschienen waren, auf das aus der Ferne herüberdringende eintönige Murmeln ihrer Gebete, das seinen Ohren in der Stille des frühen Morgens düster geklungen hatte, auf die im Marienmonat Mai der Muttergottes dargebrachten Blumengaben, auf die Besuche bei Kranken und Invaliden, zu denen die elternlosen Heimkinder Hochwürden Alegre begleiten mussten, gleichsam in der Nachfolge des heiligen Cottolengo, Apostel der Nächstenliebe, sowie auf den Duft des Mandelgebäcks, das die elternlosen Kinder an Festtagen bekamen.
Mit sieben Jahren hatte man ihn nach der Erstkommunion in ein von Dominikanern geleitetes Waisenhaus für Jungen geschickt. Sein Bett stand zusammen mit einer großen Zahl anderer in einem riesigen Saal. Man gab ihm eine schwarz-weiß gestreifte Uniform mit einer Nummer auf dem Kragen. Von jenem Augenblick an war er nicht mehr der von den Nonnen liebevoll Cesi gerufene César Vázquez, sondern Nr. 315. Er schlief im Bett 315, dessen Laken die Nummer 315 trugen. In jedes seiner Kleidungsstücke war die 315 eingestickt, auf seinem Pult im Klassenzimmer stand sie, und auch der Einband seiner Schulbücher trug unübersehbar die Nummer 315 …
Bei den Mönchen lernte er aufs Wort zu gehorchen, sobald jemand seine Nummer rief, ganz gleich, ob es darum ging, zu nachtschlafender Zeit ohne Widerrede aufzustehen, um auf Knien mit einem Scheuerlappen vor einem Holztrog voll Seifenwasser den riesigen Schlafsaal zu wischen oder die verstopften Latrinen zu säubern. Auch lernte er zu beten, bevor er ein Vorhaben begann, lernte in zahllosen Stunden der religiösen Unterweisung, dass er sein Leben dem Herrn weihen, täglich zur Messe gehen, vor dem Mittag- und Abendessen in der Bibel lesen, und den Rosenkranz beten musste, bevor er sich schlafen legte. Unter dem aufmerksamen Blick eines Paters, dem nichts entging und der mit seiner Haselrute sogleich jeden züchtigte, der unaufmerksam war, sagte er sie alle fehlerlos auf, während er Perle auf Perle durch die Finger gleiten ließ. Nein, glückliche Kindheitserinnerungen waren das nicht. Genau genommen waren es gar keine, denn er hatte sie eine nach der anderen aus dem Gedächtnis gelöscht, um an nichts anderes zu denken als an Gebete und die grenzenlose Unterwerfung, die jeder gute Christ dem Herrn schuldete.
Mit achtzehn Jahren hatte man ihn in ein Heim für alleinstehende Jugendliche gegeben. Dort wurde er in einer von den Dominikanern geleiteten Werkstatt Tag für Tag von acht bis zwei als Elektriker ausgebildet. In seinen freien Stunden gab er sich dem Gebet und der Buße für die Sünden hin, die er in Gedanken, Worten und Werken auf sich geladen hatte. Auf einem Betstuhl kniend entblößte er seinen Oberkörper vor dem Bild des Gekreuzigten, das die Kapelle beherrschte, und peitschte sich mit einer Geißel, um durch den Schmerz die Sünden seiner Seele und seines Leibes zu sühnen, ganz wie Jesus am Kreuz. Er hatte irgendwo gelesen, der Schmerz sei eines der besten und zugleich eines der am meisten geschätzten Mittel, mit denen man vor Gott seine Sünden büßen könne, und so widmete er sich dieser Selbstzüchtigung voll Hingabe, bis sein Rücken blutete und ihm die in die Lederschnüre der Geißel geflochtenen Metallspitzen die Haut in Streifen vom Rücken rissen. Er hatte sich zu eigen gemacht, was im Buch des Propheten Jesaja stand, und so stieß er auf Knien mit von Schmerz gequälter, aber lauter und fester Stimme hervor: »Er wurde misshandelt … doch er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf … wie das Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird … aus Drangsal und Gericht wurde er hinweggenommen … wegen des Vergehens hat ihn Strafe getroffen … dann wird Dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte …« Nie geißelte er sich öfter als neununddreißig Mal, eingedenk
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