Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
und den Schorf auf den noch nicht ganz vernarbten Stellen, die sich zu einem eigentümlichen Muster des Schmerzes vereinigten. Er warf sich einen Morgenmantel über und bereitete sein karges Mahl zu: eine Suppe, ein Omelett aus zwei Eiern, eine Scheibe Brot und ein Glas Wasser. Anschließend legte er sich auf die Bettcouch, nahm eine Bibel in Esperanto zur Hand und las das erste der prophetischen Bücher. Ein Blick zur Uhr auf dem Nachttisch zeigte ihm, dass es Viertel nach zehn war. Er musste noch bis Mitternacht wach bleiben.
Von seinem Lager aus hörte er Fernseher aus Nachbarwohnungen, die mit voller Lautstärke ein Fußballspiel übertrugen. Er konzentrierte sich auf seine Bibellektüre und erhob sich wenige Minuten vor zwölf. Aus dem Nachttisch nahm er einen verschlossenen Umschlag und öffnete das Siegel, das den mit einem Hahn gekrönten Kopf eines Hundes zeigte. Auf dem Blatt darin standen lediglich vier Zahlen: 18-16/42-34. Er öffnete den Schrank und stand jetzt vor einem Morseapparat. Über die Sendetaste gab er die Zahlen ein. Die Impulse drehten über einen Elektromotor die auf der Dachterrasse angebrachte Antenne, die sich jetzt auf die angegebene Position ausrichtete: 18E 16’ östlicher Länge und 42E 34’ nördlicher Breite. Abdias wartete, bis das rote Licht am Steuerpult erlosch und ein grünes aufleuchtete. Dann gab er seine Schlüsselnummer ein, die 315, und sendete im Morsecode eine in Esperanto abgefasste Botschaft.
Während sich Munárriz an seinem Arbeitsplatz im Polizeipräsidium mit aller Kraft auf seine Aufgabe konzentrierte, die darin bestand, die kaum überschaubare Fülle der von den Verbrechensbekämpfern der Regionalpolizei eingegangenen Berichte zu analysieren und auszuwerten und die Ergebnisse von deren Ermittlungen mit denen der Kriminalpolizei zu koordinieren, musste er unablässig an den Tod der jungen Restauratorin denken. Wie auf einer Filmleinwand trat ihm immer wieder vor Augen, was er in dem Baucontainer gesehen hatte, und jedes Mal, wenn er den Ablauf der Ereignisse zu rekonstruieren versuchte, stellten sich ihm neue Fragen.
Er gab sämtliche gewaltsame Todesfälle in seinen Rechner ein, die im Laufe der vergangenen sechs Monate in Barcelona gemeldet worden waren – keiner von ihnen wies die geringste Gemeinsamkeit oder auch nur von ferne eine Ähnlichkeit mit diesem auf. Außer ihm war offenbar bisher niemandem der Gedanke gekommen, Begoña Ayllón könne einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Als Nächstes ging er alle Berichte über die zahlreichen Arbeitsunfälle durch, zu denen es in jüngster Zeit gekommen war, doch auch von ihnen passte keiner zu diesem Muster. Da schien jemand wirklich ganze Arbeit geleistet zu haben. Da die Restauratorin die Tür des Containers von innen abgeschlossen hatte, konnte keine Rede davon sein, dass der Täter einfach hineingegangen wäre, denn in dem Fall hätte sie sich gewehrt und mit Hilferufen auf sich aufmerksam gemacht. Also musste er durch das Schlüsselloch ein betäubendes Gas wie Halothan oder Isofluran eingeleitet haben, wie es als Inhalationsanästhetikum bei Operationen üblich und daher im Sanitärhandel erhältlich ist. Danach hatte er lediglich zu warten brauchen, bis die Frau bewusstlos war, um sich mit einer Gasmaske Zutritt zum Container zu verschaffen. Er musste also im Besitz eines Schlüssels oder zumindest eines Nachschlüssels gewesen sein. Im Inneren des Containers konnte er dann in aller Ruhe Leiter und Buch so anordnen, dass ein Sturz glaubhaft wurde. Als nächstes hatte er wohl ihren Kopf gegen die Tischkante geschlagen und sie so auf den Boden gelegt, als ob sie dort hingestürzt wäre. Dann hatte er das Toilettenfensterchen geöffnet, um das Gas entweichen zu lassen, und hinter sich abgeschlossen.
Nach längerem Nachdenken beschloss Munárriz, alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und die Nachforschungen auf eigene Faust zu betreiben. Der Wunsch, den Fall zu lösen, riss ihn mit sich wie ein Sturzbach im Gebirge. Seit dem Tag, an dem er das heimatliche Städtchen hinter sich gelassen hatte, um in Bilbao die höhere Schule zu besuchen und Abitur zu machen, war er sein Leben lang Eingebungen gefolgt. Sein Vater, der ihn vom Meer und der Mühsal eines Lebens als Fischer hatte fernhalten wollen, hätte es am liebsten gesehen, wenn er Anwalt oder Arzt geworden wäre, denn nur diese beiden Berufe schienen ihm hinreichend Ansehen zu haben. Um ihm die Freude machen, hatte Munárriz daher nach dem
Weitere Kostenlose Bücher