Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
satanistische Riten. Stellen Sie sich das nur vor!«, rief er mit zum Himmel erhobenem Blick aus. Dann wies er vom Mittelgang der Kirche aus mit ausgestrecktem Arm auf die Rosette in der Westfassade. »Sehen Sie nur, wie schön sie ist.«
Angesichts der Lichtfülle, die durch die farbigen Gläser hereindrang, gab ihm Munárriz Recht.
»Gewöhnlich werden Rosetten mit Buntglas gestaltet«, dozierte Hochwürden Ramírez. »Das gilt ganz besonders für die gegen Ende des Mittelalters entstandenen. Der Ursprung dieses Schmuckelements findet sich im oculus frühchristlicher Basiliken, das nichts weiter war als eine einfache runde Maueröffnung, durch die Tageslicht hereinfiel. Die Besonderheit der Rosetten besteht in der filigranen Ausarbeitung des Maßwerks.«
Draußen blieb der Priester vor dem aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts stammenden herrlichen romanischen Portal stehen. Voll Stolz erklärte er, dass dessen makelloser Zustand, insbesondere im Tympanon, auf die von Begoña Ayllón geleiteten Restaurierungsarbeiten zurückzuführen sei. »Es war ihr erster Auftrag«, erinnerte er sich mit Wehmut in der Stimme. Dann wies er auf die Kragsteine hin, die unterhalb der Rosette den Dachvorsprung über den sitzenden Statuen König Alfons’ VIII. und seiner Gemahlin Leonore von England trugen, die den Bau der Fassade durch großzügige Spenden gefördert hatten. Während Munárriz’ Blick auf dem schönsten romanischen Portal der ganzen Provinz Soria ruhte, teilte ihm Hochwürden Ramírez Einzelheiten über die halbkreisförmigen Archivolten mit, die auf von Doppelsäulen getragenen Kapitellen ruhten.
Links und rechts des Portals trugen zehn Kapitelle mit Motiven aus der Schöpfungsgeschichte das Tympanon, während die Archivolten mit unterschiedlichen Gestalten belebt waren. Eine zeigte die vierundzwanzig Ältesten aus der Offenbarung des Johannes mit Musikinstrumenten, die nächste den bethlehemitischen Kindermord, und die dritte Szenen aus dem Leben Jesu. Die vierte schilderte die Leidensgeschichte, während die fünfte komplizierte pflanzliche Motive zeigte. Umrahmt wurde das Tympanon von einer Skulpturengruppe mit Maria in der Mandorla, über der die Dreifaltigkeit thronte. Außerdem sah man neben Maria und Josef vier Engel sowie die Symbole der vier Evangelisten. Hochwürden Ramírez betonte, dass diese Art der Darstellung in keiner Weise der architektonischen Überlieferung der Romanik in der Provinz Soria entsprach, sondern auf das Vorbild französischer Kathedralen zurückging, vor allem das von Notre Dame in Poitiers.
»Noch nie habe ich eine solche Fassade gesehen!«, rief Munárriz staunend aus, nachdem der Priester seine sachkundigen Erläuterungen beendet hatte.
»Das kann ich mir denken. Begoña und ich haben aber auch zahllose Stunden damit zugebracht, die Einzelheiten der jeweiligen Ikonographie durchzugehen, bevor sie sich an die Restaurierung des Tympanons gemacht hat.«
»Und ähneln die Rosette und die Kragsteine der Wallfahrtskapelle, von der Sie gesprochen haben, denen hier?«
»Nicht im Geringsten«, teilte ihm Hochwürden Ramírez mit. »Diese Rosette hier ist farbig und ziemlich groß, während die der Wallfahrtskapelle deutlich kleiner und unauffälliger ist. Dafür aber enthält sie, wie auch die Kragsteine, eine Fülle hermetischer Botschaften.«
»Was habe ich darunter zu verstehen?«
»In den Kragsteinen wie auch in der Rosette verbergen sich esoterische Aussagen. Genau genommen gehört es sich für einen Diener Gottes und der Kirche nicht, von solchen Dingen zu sprechen, aber ich habe mich gründlich mit der Thematik befasst und kann Ihnen versichern, dass sich die christliche Symbollehre auf zwei Ebenen deuten lässt.«
»Und dafür hat sich Begoña interessiert?«, fragte Munárriz verwundert.
»O ja«, erwiderte der Priester mit Nachdruck. »Sie war ganz wie ich der Ansicht, dass sich an Schmuckelementen von Kirchen und Kathedralen des Mittelalters so manches ablesen lässt, was in Beziehung zum Templerorden, zur Gralssuche und dem Streben der Alchemisten nach dem Stein der Weisen steht. Jedes dieser Bauwerke ist sozusagen ein Teil des großen steinernen Buches, dessen Seiten sich links und rechts des Jakobsweges finden.«
»Wollen Sie damit sagen …«
»Legen Sie mir nichts in den Mund«, mahnte ihn der Priester. »Sofern mein Bischof erführe, dass ich bestimmte Theorien über die religiöse Kunst vertrete, würde man mich vor die Glaubenskongregation zitieren.
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