Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
entschlossen, seinen Besucher zu überzeugen. »Der landläufigen Ansicht nach ist sie ein architektonisches Schmuckelement. Auf der Ebene der Symbole hingegen bezieht sie sich auf die mystische Rose, die nie verwelkt und die Vollendung des magnum opus der Alchemisten anzeigt, das heißt, die Entdeckung des Steins der Weisen. Die Troubadoure nannten Maria den ›weltlichen Gral‹ und verwendeten den Begriff auch für die ›Dame im Rosengarten‹. Mithin ist die Rose das wichtigste Mariensymbol und der Rosenkranz der wichtigste Gegenstand in der Marienverehrung.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und was ist der Rosenkranz in Ihren Augen?«
»Ein Mittel zu Andachtsübungen und Gebeten in Gestalt einer Schnur mit Perlen und einem Kreuz daran.«
»Richtig«, stimmte der Priester zu. »Aber wenn Sie sich einen Rosenkranz genauer ansehen, wird Ihnen auffallen, dass diese Perlen in Fünfergruppen angeordnet sind. Die Fünf ist die Zahl der Marienverehrung. In der christlichen Emblematik hat die Rose stets fünf Kelchblätter. Bedenken Sie, dass Christus fünf Wunden empfangen hat und man vom Gral fünf Wandlungsstufen kennt. Die Rose war das Symbol für die Quintessenz, also das Auffinden des Steins der Weisen – lapis non lapis , wie es Rulandus formuliert hat, der ›Stein, der kein Stein ist‹, was so viel bedeutet wie ›mehr als einfach ein Stein‹. Laut Avicenna und Codar ist er das Lebenselixier, das Unsterblichkeit verleiht, das Ziel der Suche aller Alchemisten.«
»Bemerkenswert«, räumte Munárriz ein.
»Fahren wir mit unserer Übung fort«, regte der Priester an. »Was sagt Ihnen die Marienstatue am Portal?«
»Nichts«, gab Munárriz gleichmütig zur Antwort.
»Ihnen dürfte aber doch aufgefallen sein«, fuhr Hochwürden Ramírez fort, »dass sie von einer sogenannten Mandorla umgeben ist, einer mystischen Mandel. Die Mandel als Sinnbild für das Wesentliche, das im Belanglosen verborgene Spirituelle, wird mit Christus gleichgesetzt, bei dem sich hinter der menschlichen Gestalt im Leib der Mutter Gottes sein göttliches Wesen verbirgt. In der Antike war die Mandel ein Sinnbild für Schwangerschaft und Fruchtbarkeit, weshalb man Brautleute bei der Hochzeit mit Mandeln beworfen hat. Die Griechen haben im Mandelöl sogar die Samenflüssigkeit ihres Hauptgottes Zeus gesehen. Merken Sie jetzt, dass hinter allem ein doppelter Sinn steckt?«
»Ja.« Munárriz’ Interesse war mit einem Mal neu erwacht. »Sie vertreten die Ansicht, dass die Steine eine ausschließlich Eingeweihten zugängliche verborgene Botschaft enthalten, welche die Zeiten überdauert. Nur wer in der Symbollehre geschult ist, vermag sie zu entziffern.«
»Es freut mich, dass Sie erkannt haben, worauf ich hinauswill. Im Hebräischen heißt Mandel übrigens luz , und diesen Namen trägt auch ein geheimnisvoller unterirdischer Ort, der als ›Stadt der Unsterblichkeit‹ bezeichnet wurde und später, nach der Vision des Erzvaters Jakob, den Namen Bethel bekam, was so viel wie ›Haus Gottes‹ bedeutet. Die Mandel, die Sie am Portal von Santo Domingo gesehen haben, ist ein Sinnbild für das Dunkel, den nach innen gewendeten Blick, ohne den wir die Weisheit nicht zu erlangen vermögen, die zur Erkenntnis führt. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass amigdula, das vulgärlateinische Wort für ›Mandel‹, auch ›Dunkelheit‹ bedeutet.«
»Und was steckt hinter all dem?«, erkundigte sich Munárriz.
»Vom Standpunkt der christlichen Ikonographie aus eine Allegorie der Madonna als Mutter Jesu oder, wie wir Katholiken sagen, der Muttergottes. Sobald man die Dinge aber mit den Augen eines Kenners der hermetischen Lehre betrachtet, wird die Botschaft unklar. Wir sind imstande, die Existenz geheimnisvoller Symbole zu erfassen, nicht aber, sie zu entschlüsseln, weil uns die dafür nötige Kenntnis fehlt.«
»Sofern die Kenner der hermetischen Lehre Recht haben«, wagte sich Munárriz vor, der Geschmack an der Sache gefunden hatte, »müsste man also die Bibel auf zwei Ebenen auslegen: einer geistlichen und einer weltlichen.«
»Genau so ist es«, gab ihm der Priester Recht. »Die Bibel ist eine hermetisch verschlüsselte Schrift, die nach Ansicht vieler Fachleute eine Beschreibung des alchemistischen Prozesses enthält. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass sich die Offenbarung des Johannes oder die Passionsgeschichte auf dieser Ebene deuten lassen.«
»Und findet sich am Portal von San Bartolomé etwas
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