Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Auftrag König Philipps tätigen Inquisitoren behaupteten nun, dass sie sich bei den genannten Initiationsriten vollständig entkleideten und einander auf das Hinterteil, den Nabel und den Mund küssten und sich anschließend der Unzucht miteinander hingaben.«
Munárriz hob die Brauen.
»Geoffroy de Charney, der ebenso wie Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen endete, hatte bei seiner Vernehmung zugegeben, dass es sich so verhalte, und andere Eingeweihte hatten das bestätigt.«
»Gibt es eine Erklärung dafür?«, fragte Munárriz verwirrt. »Ich meine, was die doppelte Auslegung betrifft.«
»Aber selbstverständlich!«, rief der Priester aus. »Die Templer pflegten im Morgenland Kontakte mit arabischen und hebräischen Agnostikern und anderen Gelehrten, die bedeutende Erkenntnisse auf dem Gebiet der Alchemie gewonnen hatten. Von ihnen haben sie geheimnisvolle Initiationspraktiken übernommen – das ist die Erklärung für ihr Verhalten.«
»Ach so …«
»Ihr ausgefeiltes theologisches Wissen erlaubte es ihnen zu begreifen, dass die alchemistische Lehre auf Mythologien und Glaubensrichtungen fußte, die weit älter waren als das Christentum«, fuhr der Priester fort, »und so beschlossen sie, diese als eine Art Verstärkung ihres Glaubens an Christus zu übernehmen.«
»Sie haben also Gott unter Verwendung älterer Riten angebetet«, sagte Munárriz im Bestreben, den Gesprächsfaden nicht zu verlieren.
»In ihrer Mehrzahl gehen diese teils auf den östlichen Mystizismus, teils auf das gründliche Studium verschiedener alchemistischer Dokumente zurück. Dazu muss man wissen, dass die Orphik, eine Lehre der griechischen Antike, die sich mit dem Schicksal der Seele im Jenseits und der Seelenwanderung beschäftigt, damals im Mittleren Orient noch durchaus lebendig war. Die angebliche Zügellosigkeit der Templer war nichts anderes als der höchste Ausdruck einer orphischen Theologie, die ihrerseits auf ägyptische Mysterien zurückging.«
»Ägyptische Mysterien?«
Hochwürden Ramírez nickte. »Ägypten ist die Heimat des Monotheismus. Diese Lehre, derzufolge es nur einen Gott gibt, geht auf die Reform des Pharaos Echnaton zurück, von dem Moses sie übernommen hat. Bekanntlich hatte die Homoerotik« – er machte eine kurze Pause – »in vielen Kulturen keine andere Aufgabe als die, die spirituelle oder magische Kraft der Eingeweihten auf neue Anhänger der Lehre zu übertragen. Sie stand also im Zusammenhang mit religiösen Übungen, deren Zweck es war, in Verbindung mit den Gottheiten zu treten.«
»Ich verstehe. Man nutzte die Energien des Mikrokosmos dazu, sich mit dem Makrokosmos zu vereinigen. Der Grundsatz des Tantrismus.«
»Das haben Sie gut erfasst«, bestätigte der Priester, der in Munárriz inzwischen eine Art Musterschüler zu sehen schien. »Der Kuss auf die hintere Körperöffnung war in Indien Bestandteil des Kultes, der dazu diente, die Schlange Kundalini zu stimulieren. Diese Schlange des Gottes Schiwa, Ursprung und Quelle der geschlechtlichen und spirituellen Energien, wird dort als die kosmische Kraft angesehen, die ihren Sitz am unteren Ende der Wirbelsäule hat. In der Lehre des Yoga gilt sie als Energieleiter, welche die chakras miteinander verbindet, die Energiezentren des menschlichen Körpers. Ihre Stimulierung setzt eine Energie frei, die ein drittes Auge des Menschen öffnet, durch das er Raum und Zeit wahrnehmen kann.«
»Und die Templer sind durch ihre Kontakte mit den Kulturkreisen des Ostens in den Besitz dieser Kenntnisse gelangt?«, fasste Munárriz zusammen.
»Ja, dank der moslemischen Alchemisten haben sie die Energien des menschlichen Körpers wie auch die Möglichkeiten entdeckt, sie mit der Energie des Kosmos zu vereinen. Sie ist unter anderem im schwarzen Stein der Kaaba versammelt, während der Turm von Babel ihrer nie teilhaftig wurde, der letztlich nichts weiter war als der größte Menhir der Menschheitsgeschichte. Das angestrebte Ziel war es, die tellurischen Kräfte, also die Kräfte der Erde, so zu bündeln, dass es dabei zur Verschmelzung der Gegensätze kam, was gleichbedeutend mit dem Erreichen der Quintessenz war.«
Kopfschüttelnd versuchte Munárriz diesen Gedanken zu folgen.
»Soll das heißen, dass die Templer die tellurischen Energien beherrschten und daher imstande waren, die alchemistische Element-Umwandlung der Metalle zu erreichen?«
»Ja. Dazu aber musste man den Ausgangspunkt dieser Kräfte kennen, den umbilicus telluris . Er ist
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