Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
dasselbe wie der omphalos des delphischen Orakels und bedeutet wörtlich nichts anderes als ›Nabel der Welt‹.«
»Sozusagen ein mystisches Zentrum?«
»Genau das«, bestätigte Hochwürden Ramírez. »Viele Völker der Antike waren von der Existenz eines Mittelpunkts der kosmischen Welt überzeugt, und verschiedene Kulturen beteten ihn in Gestalt eines Baumes, einer Säule, eines Riesen oder eines künstlichen Berges an. Sicher haben Sie schon von den Zikkurats gehört, den Stufentürmen der Assyrer und Chaldäer?«
»Ja.«
»Sie sind Symbole für den ›kosmischen Berg‹. Ihre sieben Stufen oder Stockwerke standen für die sieben Himmel, wie in Borsippa, einer Stadt südwestlich von Babylon, oder zeigten die Farben der Welt, wie in Ur. Auch das Christentum hat diesen Aspekt des Glaubens übernommen. Der Name des Berges Tabor in Palästina leitet sich aus tabbûr her, was so viel wie ›Nabel‹ oder eben omphalos bedeutet, und der Hügel Golgatha, den wir mit dem Gipfel des ›kosmischen Berges‹ gleichsetzen, liegt in der christlichen Tradition in der ›Mitte der Welt‹. Der Legende nach erschuf Gott Adam auf Golgatha, wo er auch beigesetzt worden sein soll. So kam es, dass Christi Blut den Schädel des am Fuß des Kreuzes begrabenen Adam gleichsam salbte und damit erlöste. All das steht hinter dem Kuss auf den Nabel bei den Templern, ist das wahre Geheimnis der Alchemie, das die Transmutation gestattete, also die Umwandlung der Elemente und die Beherrschung des Kosmos.«
Mit einem Seufzer erklärte Munárriz: »Vom philosophischen Standpunkt aus habe ich nichts dagegen einzuwenden, ich kann mich aber nach den Grundsätzen der empirischen Wissenschaft nicht mit der Vorstellung anfreunden, dass diese mit Umhang und Schwert ausgerüsteten Mönche ohne Kenntnisse der Kernphysik imstande gewesen sein sollen, Gold herzustellen.«
»In der Tat gibt es nicht den geringsten Beleg dafür, dass ihnen das tatsächlich gelungen ist«, gab Hochwürden Ramírez vorsichtig zurück, »und trotzdem lassen historische Berichte das vermuten.«
»So etwas kann ich einfach nicht hinnehmen«, sagte Munárriz störrisch.
»Das erwartet auch niemand von Ihnen. Ich möchte lediglich einige Dinge erklären, damit Sie besser verstehen, was Sie vor sich sehen, wenn wir in San Bartolomé sind.«
Der Kellner brachte die Dessertkarte, was den Priester erneut verstummen ließ. Da beide reichlich gegessen hatten, beschlossen sie, auf einen Nachtisch zu verzichten, und bestellten einen Kräutertee, der ihrer Verdauung am ehesten förderlich sein würde. Ramírez wollte die Rechnung begleichen, doch Munárriz kam ihm zuvor. Nach einer solch lehrreichen Unterweisung konnte er unmöglich zulassen, dass der Priester auch noch für das Essen aufkam.
Unwillkürlich überlief Munárriz ein Zittern, als er in die Kühle des Nachmittags hinaustrat. Angesichts der im Vergleich zu seinen sonstigen Essensgewohnheiten mehr als üppigen Mahlzeit, der Flasche Rotwein, die sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatten, und seiner Reisemüdigkeit, wäre er zwar am liebsten zu einer Siesta in den Parador zurückgekehrt, doch durfte er sich dem Ruf der Pflicht nicht entziehen, zumal der Priester im Unterschied zu ihm ausgesprochen frisch wirkte. Er schien für seine achtzig Jahre beneidenswert vital zu sein.
»Mein Wagen steht auf dem Parkplatz in der Nähe der Plaza del Olivo«, sagte Munárriz und wedelte mit seinen Schlüsseln, bereit, die Fahrt nach San Bartolomé anzutreten.
»Was für ein Wagen ist es?«, erkundigte sich Hochwürden Ramírez.
»Ein Peugeot 407.«
»Dann nehmen wir besser meinen«, sagte er knapp.
Munárriz nahm das widerspruchslos hin. Sie gingen durch die Calle Aduana Vieja erneut an der Kirche Santo Domingo vorüber. In der Calle Santo Tomé stand ein Citroën 2 CV auf dem Bürgersteig. Hochwürden Ramírez schloss auf, stieg ein und öffnete Munárriz die Beifahrertür von innen.
Während es auf der N-234 in Richtung Abejar ging, erhoben sich links von ihnen die Berge der Sierra de Cabrejas. Leise schnurrend rollte der 2 CV mit konstanten siebzig Stundenkilometern dahin. Noch nie im Leben war Munárriz so oft überholt worden. Manche Fahrer, die den Wagen des Priesters zu kennen schienen, hupten grüßend, andere verfluchten ihn wegen seines Schneckentempos. Hinter Abejar, das früher wegen seiner eisenhaltigen Quellen berühmt war, ging es den Mojón Pardo hinauf, dessen Passhöhe auf 1.234 Metern lag. Schon
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