Sagrada: Mystery-Thriller (German Edition)
Quecksilber der Alchemisten in keiner Beziehung zu dem, das man aus Zinnober gewinnt. Im Übrigen besitzt auch der Gral eine Doppelnatur. Auf der einen Seite geht es um die Jungfrau Maria, und auf der anderen um den Gralskönig. Hier haben wir eine mystische Vereinigung von Christus und Maria, wie man an den androgynen Gestalten der Alchemie sehen kann, die das göttliche Wesen in Gestalt der Dualität von Mann und Frau, animus und anima, darstellt.«
Verblüfft folgte Munárriz den vom Rauschen des Wassers untermalten Worten des Priesters.
»Die Alchemisten setzten Maria mit dem vas mirabile gleich, dem wundersamen hermetischen Gefäß zur Vermengung jener Elemente, aus denen man den ›Stein der Weisen‹, die Quintessenz, gewinnen wollte, etwa so, wie sich in den griechischen Kultgefäßen kratera und kernos die Elemente der Schöpfung vermengten. Aus diesem Prozess ging der filius philosophorum hervor, der ›Sohn der Philosophen oder Weisen‹, das Kind also, das in der Chemie die aus dem Gefäß oder Uterus stammende Weisheit verkörpert, ganz so wie aus dem mit Marias Schoß gleichgesetzten Gral.«
»Das ist ja unglaublich spannend«, stieß Munárriz hervor. »Dieser Theorie nach hätten die Templer als den Heiligen Gral gar kein wirkliches Gefäß gehütet, nämlich den Kelch des Letzten Abendmahls, sondern das Geheimnis der dahinter verborgenen alchemistischen Umwandlungen, also ein Symbol.«
»Ich mag mich irren, aber genau davon bin ich überzeugt«, gab ihm der Priester Recht. »Immerhin taucht der Gral in einigen Texten in der alles andere als eindeutigen Form sangreal auf. Das lässt sich zwar in der Überlieferung des Joseph von Arimathia als san greal lesen, was ›heiliger Gral‹ bedeuten würde, aber ebenso auch als sang real , also ›königliches Blut‹. Damit wäre dann die Familie der in die Geheimnisse eingeweihten Herrscher gemeint. Ich neige letzterer Deutung zu, denn meiner Ansicht nach steht der Gral für die Weitergabe der Geheimnisse im Zusammenhang mit dem Prozess der alchemistischen Element-Umwandlung von einer Generation zur nächsten.«
»Ich vermute, Sie meinen, durch Menschen mystischer Abstammung«, fuhr Munárriz fort, »nämlich die Nachkommen Christi, die Dynastie der Merowinger. Glauben Sie daran?«
»Ich möchte nicht die Sünde des Abfalls vom Glauben auf mich laden, auch wenn sich dieser meiner Ansicht nach nicht in das Korsett des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit und von Beschlüssen zwängen lässt, die das Tridentiner Konzil vor langer Zeit gefasst hat. Es hat im 16. Jahrhundert in Trient getagt und festgelegt, welche Bücher dem Kanon zuzurechnen sind, doch hat seither nicht nur die Wissenschaft große Fortschritte gemacht, es sind auch neue Dokumente aufgetaucht, die man heranziehen müsste, bevor man die Existenz einer Nachkommenschaft Christi bestreitet.«
»Da stimme ich Ihnen zu.«
»In der Mehrzahl der apokryphen Schriften«, fuhr der Priester fort, um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, »heißt es, dass Jesus Nachkommen hatte. Sogar im Neuen Testament ist von Geschwistern Jesu die Rede: Jakobus der Jüngere, Joseph, Simon und Judas. Doch die römische Kirche lässt sie nicht als wirkliche Brüder gelten, sondern lediglich als Vettern, und erst recht will sie nichts von einer Ehe zwischen Jesus und Maria Magdalena wissen.«
»Damit würde das Dogma ja auch hinfällig.«
»Das ist der springende Punkt. Vergessen Sie nicht, dass man im Mittelalter bei der Schriftlesung in den Klöstern Joseph als pater putativus bezeichnete, also als vermeintlichen Vater, weil Maria Jesus ohne dessen Mitwirkung empfangen hat. Im Laufe der Zeit sagte man stattdessen einfach ›p. p.‹, worin der Ursprung der Gewohnheit liegt, im Spanischen jeden ›José‹ als ›Pepe‹ zu bezeichnen.«
»Hat man Maria dann auch als Ehebrecherin angesehen?«
»So kann man das sagen«, gab Hochwürden Ramírez zurück. »Warten Sie, bis wir in San Bartolomé sind, dann werden Sie besser begreifen, was ich gesagt habe.«
»Dann sollten wir einfach aufbrechen«, schlug Munárriz ungeduldig vor.
»Ja. Es ist auch nicht mehr weit.«
Sie stiegen wieder ein, um ihren Weg fortzusetzen. Kaum hatten sie den Parkplatz verlassen, begriff Munárriz, warum sich der Priester für den alten 2 CV entschieden hatte: Sie mussten von der Asphaltstraße abbiegen und einem unbefestigten Weg voller Schlaglöcher und Wagenspuren folgen, den hier und da tiefe Rinnsale querten, was der alte
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