Salomes siebter Schleier (German Edition)
grausamsten Bibelsprüchen kommentiert. Und das derart selbstgefällig, dass es sich anhörte, als seien die Schüsse auf palästinensische Jugendliche gerechtfertigt, unvermeidlich, das Natürlichste von der Welt. Die Vorstellung, dass sich da eine heilige Prophezeiung erfüllte und jeder gläubige Christ darüber jubeln sollte, war ihr widerwärtig, und daher scheute sie die Begegnung mit ihrem sogenannten Verwandten, der solche Ideen verbreitete.
Sie hielt es also aus einer ganzen Reihe von Gründen für besser, ihre Ausflüge in die Forty-ninth Street für wenigstens eine Woche zu unterbrechen, und nahm sich fest vor, genau das zu tun. Vier Tage später jedoch stand sie wieder auf den Treppenstufen von St. Patrick’s. Es war zufällig der Abend, an dem Boomers Ausstellung in der Sommervell-Galerie eröffnet werden sollte, und wenn sie sich nicht bei Turn Around Norman ablenken und trösten konnte, war alles möglich. Sie wäre sogar imstande gewesen, sich zu betrinken und zu der Eröffnung zu gehen.
Sich gegen die eisige Novemberkälte wappnend, die Hände in den Manteltaschen, die Beine gespreizt, stand Ellen Cherry da und drehte sich mit Turn Around Norman im Kreis, veränderte ihre Position ebenso unmerklich wie er, doch so, dass er ihr stets den Rücken zukehrte.
Vielleicht ist es am besten, wenn er mich nicht sieht
, dachte sie.
Ich will ihn ja nicht in Verlegenheit bringen.
Des ambivalenten Charmes seiner Gesichtsphysiognomie beraubt – dieses breitgepflügten Mondes, bestreut mit Samen von Nesseln und Narzissen, dieser rosigen Grapefruit, vom Dolch eines Attentäters zerschnitten –, hatte sie nun die Möglichkeit, sich seinen Füßen zu widmen, und konzentrierte sich auf die schmutzigen Turnschuhe, manchmal auf einen einzelnen, manchmal auf beide zusammen, auf ihre Position zueinander und zu einem Riss im Pflaster. Obwohl sich die einzelnen Positionen ständig verschoben, war sie nicht in der Lage, auch nur ein einziges Signal vom Gehirn zum Muskel oder den kleinsten Bruch in seiner skelettalen Erstarrung zu entdecken. Die Turnschuhe waren wie Potentaten aus schmutzigem Eis, die sich auf dem Rücken erhitzter Moleküle im Kreis herumtragen ließen, Passagiere auf einer nicht wahrnehmbaren, subhumanen Drehscheibe.
So unglaublich das Ganze auch war, wer hätte gedacht, dass dies spannende Unterhaltung für ein Mädchen sein könnte, das mit actionreichen Spektakeln auf kleinen und großen Leinwänden groß geworden war – selbst wenn dieses Mädchen jede einzelne Show mit Hilfe ihres Augenspiels transformiert und sich damit zu eigen gemacht hatte. In Wahrheit war nicht das, was Norman tat, so faszinierend, sondern vielmehr die Tatsache, dass er es überhaupt tat. Mit Sicherheit gab es keine Nachfrage nach dem, was er tat, noch weniger wahrscheinlich als nach ihren Bildern. Gelegentlich schien dem einen oder anderen Passanten zu dämmern, dass Norman da etwas aufführte, doch dann schüttelte er höchstens den Kopf, murmelte etwas vor sich hin und ging weiter, lächelnd oder stirnrunzelnd, je nach Temperament. Blieb jemand stehen, dann normalerweise nur, um sich über ihn lustig zu machen. Die schwarzen Jugendlichen, die in derselben Gegend tanzten und dann mit der Mütze herumgingen, hatten angefangen, ihn aufzuziehen. («Warum tanztde denn so langsam, Fettsack? Wo is’n deine Musik?») Manchmal stießen sie ihn mit den Fingern oder ungeöffneten Klappmessern ruppig in Rippen oder Bauch. Vielleicht wollten sie ihm seinen Platz auf der Straße streitig machen, vielleicht wussten sie einfach nicht, wie sie sonst auf eine Vorführung reagieren sollten, die so rein, so bar jeder Ambition war, die sie hätten verstehen oder teilen können. Der Mensch neigt dazu, angesichts vorsätzlicher und fortdauernder Akte des Wahnsinns die Fassung zu verlieren, und je sanfter dieser Akt ist, umso verrückter scheint er, als ließen sich Wut und Gewalt, da sie der Norm näher sind, leichter mit ihr in Einklang bringen.
Aber war er wirklich verrückt? Ellen Cherry hatte es nicht eilig, das herauszufinden. Im Augenblick war sie zufrieden mit der Inspiration, die er ihr schenkte, und dem darin verborgenen Trost.
Das
, sagte sie sich,
das und nicht das, was heute Abend in Ultima Sommervells Galerie oder in irgendeiner anderen Galerie abgeht, dieses einsame, kompromisslose, besessene Tauziehen mit der scheinbaren Realität, das ist es: Darum geht es in der Kunst
.
Der Strom von Passanten und Touristen drohte sie
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