Salzträume 2: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
nahm seine dicke Joppe, einen warmen Schal und eine Wollmütze, die er sich wegen der Kälte in den Höhlen zugelegt hatte. Er wußte, daß der Zauberer die Temperatur im Berg auf erträglicher Höhe hielt. Zumindest hatte er das in den letzten Wochen getan. Jetzt, wo er mit anderen Dingen beschäftigt war, hatte er damit aufgehört. Es wurde langsam unangenehm kalt. Er erinnerte sich, wie er Charlotte von Sandling in ihren dicken Mantel geholfen hatte, während sie in seinen Händen bebte. Es war der gleiche Mantel gewesen, in den gehüllt sie dagelegen hatte, als der Feyon sie liebkoste, ihr Haar berührte.
Er verdrängte das Bild aus seinen Gedanken und packte ein paar Kerzen in seinen Tornister, dazu seine Waffen. Etwas Brot würde er im Vorbeigehen stehlen. Dann würde er in den Berg vordringen.
Dumm. Ein dummes Unterfangen. Die Chancen, sie in einem Labyrinth von Gängen zu finden, waren gleich Null, solange er keine magische Führung hatte, und er konnte den Meister kaum darum bitten.
Er würde Kreide mitnehmen und seinen Rückweg markieren. Diese Markierungen würden allerdings auch anderen zeigen, wohin er verschwunden war. Das konnte er nicht ändern.
Es war das Unlogischste, das er je in seinem Leben getan hatte. Er war immer stolz darauf gewesen, ein vernünftiger Mann zu sein, der seine Entscheidungen kühl und durchdacht fällte und keinen Träumen nachhing, die nicht auch erreichbar waren. Doch wenn er weiter abwartete, würde er jeden Respekt vor sich selbst verlieren.
Er wußte nicht, warum sie ihm so viel bedeutete, diese fremde junge Frau, deren Tritte sich noch an seinen Schienbeinen abzeichneten. Eventuell war es der Mut gewesen, mit dem sie gegen Unrecht gekämpft hatte, obgleich ihr klar gewesen sein mußte, daß sie nicht gewinnen konnte. Sie hatte getan, was sie als richtig empfand, ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit. Diese tapfere Selbstlosigkeit faszinierte ihn. Von einer Frau hatte er so etwas nicht erwartet.
Den Tornister schnallte er sich auf den Rücken, ebenso den Mantel. Er würde ihn nicht gleich brauchen. Wasser brauchte er nicht mitzunehmen. Es war allgegenwärtig.
Er fragte sich, wo der Herr dieses Wassers sein mochte – und ob der unhöfliche Schönling wußte, daß sein letztes Opfer im Begriff war, etwas ausnehmend Törichtes zu tun. Er konnte sich das Grinsen gut vorstellen, gönnerhaft und amüsiert.
„Verdammt sollst du sein!“ brummte er ärgerlich. „Verfluchter, manipulativer Fisch! Lauf mir noch einmal über den Weg, dann werde ich dir eine Lektion über die Experimentierfreude menschlicher Wissenschaftler erteilen. Mal sehen, wie dir ein Kalteisenmesser zwischen deinen Feyonrippen gefällt.“
Halb erwartete er eine beißende Antwort. Als sie nicht kam, zündete er seine Laterne an und marschierte stur in die Dunkelheit.
Kapitel 10
Das Leben war von vollkommener Reinheit. Es kannte keinen Dreck, keinen Schmerz, keine Trauer, keine Not. Es war fehlerlos wie die Welt eines Kindes, bevor es die erste schlechte Erfahrung macht. Bäume waren grüner als grün, der Himmel von unfaßbarem Blau, Seen glitzerten wie Diamanten, die Zeit sang ein polyphones Oratorium. Kein Ton war schief, nicht ein Schlag zu früh oder zu spät. Fugenthemen erhoben sich und überholten sich selbst in vielstufigen Variationen. Choräle aus gemeinsamen Empfindungen sangen einander ein wortloses Gloria Mundi. Die Ewigkeit selbst gab den Basso Continuo dazu.
Gern hätte sie mit eingestimmt, ihre Stimme erschallen lassen im größten Klanggebäude, das sie je vernommen – oder gerochen? Oder geschmeckt? – hatte. Cérise sog die Wahrnehmung der Jungfrau in ihrer gesamten atemberaubenden Schönheit ein. Sie fühlte, wie ihr Tränen übers Gesicht liefen, ein Gesicht, das sie selbst, wie viele andere auch, schön gefunden hatte. Nun wußte sie, daß es bestenfalls von vorübergehender Ansehnlichkeit war. Wahre Schönheit mußte zeitlos sein.
Ihr Herz sang mit, zersprang fast in der Schwingung der Gesamtheit des Seins. Sie gab gut auf sein Lied acht und verbarg ihren Beitrag mit der Bescheidenheit einer Sängerin in einem Chor von Abermilliarden Stimmen. Das Madrigal der Existenz schwang ihr durch die Seele, schüttelte ihre Gefühle aus wie eine staubige Decke. Sie versank und ertrank in der Komplexität polyphonen Gleichklangs, dessen tiefste Töne ihre Gebeine surren ließen und dessen höchste Töne weit über dem lagen, was ein menschliches Ohr hören konnte.
Nur war sie
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