Salzträume 2: origin - Preisgekrönt und aufregend anders (German Edition)
in diesem Moment mehr als ein Mensch. Sie war das Mädchen, die Jungfrau. Die Welt veränderte sich unter und über ihr, überall um sie herum und in ihr selbst. Keine Erde und keinen Himmel gab es, kein Oben oder Unten. Alles geschah zugleich, Geburt und Tod. Wälder wuchsen und zerfielen zu Asche, Gebirge erhoben sich und wurden von Wind und Regen abgenagt.
Sie verlor sich in der überwältigenden Macht des Lebens an sich, und ihre Seele flatterte erregt in ihrer Brust wie ein Vogel, der aus dem Käfig drängt. Sie durfte sie nicht freilassen. Ihr nichtiges Seelchen war das einzige, das sie zurückführen konnte in die Wirklichkeit oder doch wenigstens in eine Realität, die sie rudimentär verstand.
Ihr Begreifen war auf eine Streckbank geschnallt. Die Macht der Zeit zog die Schrauben an, und ein engelsgleiches Unschuldslächeln brannte aus ihrem Herzen durch ihre Haut.
Es war wunderbar – und furchtbar. Sie versuchte, sich an irgend etwas festzukrallen, doch es gab nichts, das für sie begreifbar war. Die Welt rann ihr durch die Finger wie Wasser.
„Torlyn!“ seufzte sie und sammelte in ihrem überforderten Geist die Erinnerungsfetzen an den geheimnisvollen Mann, den sie so viel mehr liebte als jeden anderen, dem sie ihre Gunst geschenkt hatte. Wie ein Messer schnitt die Einsicht durch sie, daß sie nicht sie selbst war und die Jungfrau solche Erinnerungen nicht duldete.
Gleichwohl hielt sie sich daran fest, krallte ihre Gedanken hinein und stützte sich auf die Erinnerung an schmale, lange Hände auf ihrem Leib, an einen lächelnden, sinnlichen Mund, der zum Küssen wie zum Beißen geschaffen war, und an wimpernumrahmte Anthrazitaugen, die in ihre Seele sinken und sie zum Schmelzen bringen konnten, bis sie nur noch ein Teil von ihm zu sein schien. Sie stürzte auf die Welt unter ihr zu, die sich wandelte, während sie näher kam. Es gab keine Möglichkeit, sich auf den Einschlag vorzubereiten. Sie taumelte in den Tod. Gerne hätte sie die Augen geschlossen, doch sie brachte es nicht über sich, und schimmerndes Weiß flog auf sie zu.
Sie schlug hart auf, jedoch nicht so hart, wie sie befürchtet hatte. Der Aufprall trieb ihr die Luft aus den Lungen, die Erinnerung aus dem Herzen und die Musik aus ihrem Sein. Die plötzliche Abwesenheit dieser drei wesentlichen Dinge raubten ihr das Bewußtsein. Schwärze brach über sie herein.
Corrisande drehte sich im Takt eines Kinderliedes in der Mitte eines von kleinen Händen gebildeten Kreises. Ringel, Ringel, Reihe. Das hatte sie schon lange nicht mehr gehört. Sie hörte es auch jetzt nicht wirklich. Ihre Mutter lächelte sie an, und Corrisande erinnerte sich so klar an sie wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie war gestorben, als Corrisande noch ein kleines Kind gewesen war. Doch hier war sie, lächelte und streckte ihr die Hand entgegen.
Sie war so liebreizend, irgendwie vollkommen, unbeschreiblich und doch Teil ihres Gedächtnisses. Sie beugte sich zu ihr herunter, groß und hoch über ihr, wie Erwachsene eben waren. Ringel, Ringel, Reihe, sang sie; ihr Lächeln wurde zum Lachen und dann zu nichts, während ihr Bild vor einem zitternden Kind zerfloß. Geh nicht, wollte Corrisande rufen. Ich will mit dir sprechen. Wir haben nie richtig miteinander gesprochen. Wir hatten nie Gelegenheit dazu.
Ringel, Ringel, Reihe. Der Gesang hallte noch in Corrisande nach. Machen alle husch, husch, husch. Nun war es Corrisande, die hinabblickte auf die Kinder vor ihr, einen Knaben und ein Mädchen. Der Junge hatte die gelblichen Augen seines Vaters, doch blondes Haar, das Mädchen hatte ihres Vaters kräftige, schwarze Locken geerbt und Corrisandes blaue Augen. Liebst du uns? fragten sie. Natürlich, wollte sie sagen, doch sie wandten sich von ihr ab, blickten argwöhnisch den großen, dunklen Mann an, der ihr Herz fast zur Gänze besetzt hielt.
Sie lag neben ihm im Bett in Ischl, am Morgen vor seiner Abreise. Eben war sie von ihrem unfreiwilligen allmorgendlichen Spaziergang zurückgekommen. Leise stieg sie wieder ins Bett, und er griff nach ihr, zog sie in seine Arme, vergrub sein Gesicht an ihrer Schulter und murmelte etwas Unverständliches. Sie verstand, daß sie nun die Möglichkeit hatte, es richtig zu machen. Anders zu machen. Das Schicksal zu ändern. Also sagte sie es.
„Philip. Geh nicht. Laß mich nicht allein!“
Er war sofort hellwach, sein Kämpferinstinkt riß ihn beim ersten Anzeichen von etwas Ungewöhnlichem sekundenschnell aus dem Schlummer. Ihre
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