Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Samarkand Samarkand: Roman (German Edition)

Titel: Samarkand Samarkand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Politycki
Vom Netzwerk:
Zumindest die Wahrheit verschwiegen. Wenngleich aus anderen Gründen als Odina. Keinen Moment bezweifelte er den Wahrheitsgehalt ihres Geständnisses. Der Junge lebte! Aber würde er dann in diesem Sommer nicht auch wieder unterwegs sein? Mit einem neuen »Herrn«, den er als Eseltreiber führte?
    Die Idee, daß es noch andere in Samarkand geben könnte, die von dort ins Gebirge aufbrachen, hatte Kaufner bislang nie konkret zu Ende gedacht. Wo man in den Tälern wenigstens zum Schein an der Illusion eines friedlichen Miteinanders festhielt, galt auf den Höhen … das Gesetz der Berge. Gewiß nicht nur unter den diversen Stämmen, Drogenbaronen und Einzelkämpfern, die dort ihren Geschäften nachgingen, sondern auch unter den Paßgängern, selbst wenn sie womöglich die gleichen Auftraggeber hatten und das gleiche Ziel, dem sie durch Zusammenarbeit näher gekommen wären als auf eigene Rechnung. Aber wie hätte man einander auf die Distanz überhaupt als Paßgänger erkennen können?
    Und gar, für welche Seite der andere arbeitete? Sicherer war’s, im Wettlauf jeder gegen jeden mitzumachen, ohne im entscheidenden Moment viel nachzudenken – auf daß man es nicht plötzlich selber war, den man im Tal auf einer Trage anlieferte. Jeder in Stadt und Land wußte, was in den Bergen geschah, und jeder schwieg dazu – das immerhin hatte Odina zugegeben. Die Gebeine Timurs samt ihren Grabbeigaben schienen so gut versteckt zu sein, daß man sich nirgendwo ernsthaft um die Paßgänger kümmerte. Sie würden sich in ihrem Eifer sowieso gegenseitig aus dem Weg räumen, den Rest notfalls die Wächter der
Faust Gottes
besorgen, so weit war die Rechnung der Einheimischen klar.
    Kaufners Rechnung war eine andere. Sorgfältig faltete er das Taschentuch und schob es zurück in die Hose. Nach wie vor bedrängten die Frauen den Container mit dem winzigen Schalterfenster. Schwere breite Glitzerkleidfrauen mit Goldzähnen und durchgezogenem Augenbrauenstrich. Einige wedelten mit Dokumenten und deklamierten dazu Bruchstücke ihrer Leidensgeschichte, jedwedem rundum die besondere Dringlichkeit ihres Ausreisewunsches darlegend, reichten die Dokumente nach vorne, über die Köpfe der anderen hinweg. Seltsamerweise verhinderten diese es nicht, gaben die fremden Dokumente sogar weiter, schließlich in die kleine Öffnung hinein und damit sich selbst und ihr eigenes Anliegen geschlagen. Es würde noch Tage, Wochen, Monate, würde immer so weitergehen.
    Aber bei allem Chaos, das vor dem Schalter herrschte, mußte es auch hier einen diskreten Zugang von hinten geben, das hatte Kaufner bei der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten gelernt. Er schlenderte um den ersten Container herum, schon an der Rückseite des zweiten fand er eine Tür, platzte mitten in eine Mittagspause. Die Beamten waren so überrascht, daß sie Kaufner wie ertappt angrinsten. Was allerdings die Bearbeitung seines Passes anging, konnten sie nur mit den Schultern zucken, da müsse man abwarten, er sehe ja selber. Im Eck lagen, wüst übereinandergeworfen, Hunderte, vielleicht Tausende an Pässen.
    Kaufner ließ sich zum diensthabenden Offizier bringen, der ihm ausnehmend freundlich einen Platz und dazu ein Glas Tee anbot. In der schalenartigen Lampe, die von der Decke hing, war ein Schwalbennest; seitdem Kaufner das Büro betreten, flog die Schwalbe aufgeregt ihre Runden, schließlich beruhigte sie sich und bezog wieder ihr Nest. Der Offizier lächelte, ein erschreckend junger Kerl, bräunlicher Teint, kurze schwarze Haare, nach hinten gegelt, er hatte eine sehr grazile Art, das Teeglas zum Mund zu führen. Sofortige Bearbeitung von Kaufners Paß? Aber gern! Sofern ihn Kaufner finde. Es gelang mit überraschend wenigen Griffen, vor der versammelt staunenden Mannschaft zog Kaufner seinen Paß aus dem Haufen, er hatte ihn vor der Abreise aus Hamburg mit dem bunten Abziehbild eines als Geier karikierten Bundesadlers markiert. Dem Offizier gefiel der Adler, er lachte, flatterte mit den Armen und krächzte, einen derartigen Paß bekam er viel zu selten in die Hände. Kaum zurück in seiner Stube, die Schwalbe drehte erneut ein paar Runden, löste er das Abziehbild vorsichtig und klebte es auf seinen Schreibtisch, erst dann machte er sich an die Lektüre des Passes.
    »Gamburg?«
    »Gamburg. Immerhin nicht Köln.«
    Der Offizier sah nicht mal auf. Kaufner hatte zwar ein perfekt gefälschtes Visum, aber das galt anscheinend nicht mehr. Oder doch? Ausnahmsweise?
    »Alle wollen raus,

Weitere Kostenlose Bücher