Sanctum
Dielen. Jean näherte sich, betrachtete den entstellten Menschen und tastete am wie detoniert wirkenden Hals nach dem Puls.
»Er ist tot.«
Gregoria betrachtete den Flakon. »Ist es das falsche Mittel?«, stammelte sie betroffen. »Herr im Himmel, haben wir ihn damit umgebracht?« Sie bekreuzigte sich und stellte sich ebenfalls neben den Leichnam, segnete ihn und verspürte großes Mitleid. Sie dachte an die Geschichte über seine Familie, seine Freude darüber, als normaler Mann zu ihr zurückzukehren zu können. »Er vertraute mir.«
»Nein, Gregoria. Das Böse hat ihn umgebracht.« Jean erhob sich. »Er war zu schwach.« Sarai blieb ebenso gelassen wie ihr Mentor. »Die Macht der Bestie war zu stark, der Körper hat das Ringen zwischen Gut und Böse nicht überstanden.«
Jean ging zum Schreibtisch, wo noch immer der Wechsel lag. Er tauchte die Feder ins Fass und trug die Zahl zweihunderttausend in die leere Stelle ein, dann winkte er Sarai zu sich. »Du wirst morgen mit Debora zu seiner Hausbank gehen und dir die Summe auszahlen lassen, meinetwegen in Raten. Sie werden nicht alles Geld in ihrem Panzerschrank lagern. Wir werfen seine Leiche in den Fluss und …«
»Nein.« Gregoria sah ihn ernst an. »Er hat ein Begräbnis verdient, wie es sich für einen Christen gehört.«
Er sah auf Roscolio, dessen Leiche wenig Menschliches an sich hatte. »Wie willst du das einem Priester erklären? Eine Untersuchung würde noch mehr Aufsehen erregen als sein Verschwinden. Ich kenne die Zeitungen und Journale, Gregoria, die damals auch über die Bestie geschrieben haben. Die gleichen Abenteurer werden nach Rom kommen und uns die Arbeit erschweren.«
Sie schwieg, weil sie wusste, dass er Recht hatte. »Dann begraben wir ihn bei uns. Im Garten. Es gibt keinen besseren Platz für einen Toten als ein Kloster. Er hat seine Seele gereinigt und uns obendrein noch eine Summe hinterlassen, mit der wir Dinge anschaffen können, von denen weder Lentolo noch der Kardinal etwas erfahren werden. Ich lasse es nicht zu, dass wir ihn wie einen Selbstmörder ohne würdiges Grab noch weiter entehren, als es die Bestie in ihm vermocht hat.«
»Im Hof?«, fragte Jean ungläubig nach.
»Wieso nicht?«, hielt sie beinahe wütend dagegen.
Die Seraphim hielten sich aus dem Disput heraus, es stand ihnen nicht zu, eine Bemerkung zu machen. Sie steckten die Pistolen weg, Sarai sah aus dem Fenster, vor dem der Schnee rieselte und eine dicke Lage Weiß auf die Stadt gelegt hatte.
»Na gut«, willigte er ein. »Wir werden ihm dennoch den Kopf abtrennen. Ich möchte auf Überraschungen verzichten.« Jean sah zu den Seraphim. »Du wirst alles veranlassen, Sarai.«
»Sehr wohl. Ich mache mich gleich an die Arbeit.« Sie gab den anderen jungen Frauen ein Zeichen und ging hinaus, Gregoria und Jean folgten ihnen. Der widerliche Geruch machte den Aufenthalt in dem Raum zu keiner schönen Angelegenheit. Sie hielten sich stattdessen in der Eingangshalle auf, wo ein prasselndes Feuer im großen Kamin brannte.
»Das Sanctum hat versagt. Es hat einen Menschen umgebracht anstatt ihn zu heilen.« Sie hielt eine Hand um den Flakon, ihre Sorge um Florence stieg. So sehr sie Roscolios Tod bedauerte – und so sehr sie sich für ihre Gedanken schämte –, sie war erleichtert, dass sie das Mittel zuerst an ihm ausprobiert hatte. Sonst läge nun ihr Mündel tot vor ihr. »Oder was meinst du?«
Jean zuckte mit den Achseln. »Es hängt vielleicht von verschiedenen Dingen ab. Es könnte wirklich sein, dass Sarai Recht hatte und sein Leib zu schwach war, wie ein Gerüst, das unter einer schweren Last zusammenbricht.« Er schaute zu, wie Flammen nach oben züngelten und den Kamin hinauftanzten. »Wir werden es bei dem nächsten Wandelwesen sehen, das wir fangen.«
Sie sah zu ihm und hätte so gern nach seiner Hand gegriffen, seine Nähe und seine Wärme gespürt, schon allein um ihm zu zeigen, dass sie ihre Worte im Arbeitszimmer nicht böse gemeint hatte. Aber in der Eingangshalle gab es zu viele Möglichkeiten, entdeckt zu werden.
Dann kam ihr ein neuer beunruhigender Gedanke. »Was ist, wenn das Sanctum auch die Schwestern und die Seraphim tötet?«, flüsterte sie.
Er blickte zu ihr, und seine Stirn legte sich in Falten. »Wieso sollte es das?«
»Der Kardinal möchte, dass ich ihnen davon gebe, damit sie gesegnet und gegen die Verführungen des Bösen immun sind.« Sie klammerte sich mit allen zehn Fingern an das Fläschchen. »Jean, was ist, wenn ich sie
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