Sanctum
sich gezogen hätte, benutzten sie Schleichwege durch Hinterhöfe und über Dächer.
Gegen Mittag erreichten sie endlich ihr Hauptquartier. Jean erstattete Gregoria auf ihrem Zimmer einen umfassenden Bericht von dem, was sie gesehen hatten.
Schweigend hörte sie zu. »Ich gehe davon aus, dass alle drei noch leben: der Comte, Florence und das Wesen, das sie auf die Welt gebracht hat«, sprach sie bedächtig. »Der Comte sucht weiterhin nach dem Panter, von daher schätze ich nicht, dass er etwas mit den Vorgängen in der Basilika zu tun hat.« Sie sah zu Jean. »Es war Florence. Ich bin mir ganz sicher, dass sie es war. Sie wollte mit der Entschlossenheit einer Mutter ihr Kind zurück.«
»Es könnte passen. Man hat sie in dem Wagen vor die Basilika gefahren, vielleicht um sie umzuladen und sie an einen anderen Ort zu bringen. Sie befreite sich und nahm die Witterung ihrer Brut auf«, versuchte sich Jean an einer Erklärung. »Sie bahnte sich ihren Weg durch die Fallen und die Männer des Kardinals, rettete ihr Junges und verschwand.« Er setzte sich neben die Wiege und betrachtete Marianna. »Du kennst Florence dein ganzes Leben lang, Gregoria. Was würde sie tun? Wohin würde sie gehen?«
»Sie ist frei und hat ihr Kind in Sicherheit gebracht. Also wird sie nach Hause wollen, ins Gevaudan. Vielleicht denkt sie, dass es das Kloster noch gibt. Oder dass ich dort bin.« Gregoria sah gerührt, wie Jean den kleinen Finger in die Wiege hielt und sich Mariannas Händchen darum schloss; ihr entging auch das Lächeln nicht, das sich auf das Gesicht des Mannes stahl.
»Sie hat tatsächlich deine Augen«, sprach er leise, um das Kind mit seiner Stimme nicht zu erschrecken. »Als ob es dein eigenes wäre.«
Sie war sehr froh, dass er sich um das Kind kümmerte, sonst hätte er das verräterische Zucken in ihrem Gesicht gesehen. Sie legte die Hände zusammen und zwang ein Lächeln auf ihre Züge. »Das Sanctum hatte Recht. Es leitete mich zu diesem Mädchen.«
»Was wird aus ihr?«
»Sie wird eines Tages die Schwesternschaft leiten, wenn ich zu alt geworden bin«, erklärte sie. »Ich werde sie großziehen, als wäre sie meine eigene Tochter, Jean.« Gregoria erhob sich, stellte sich neben ihn und legte ihre Rechte auf seinen Rücken. »Marianna mag dich«, sagte sie glücklich und gab sich der Illusion hin, dass sie eine Familie seien.
Jeans Gesicht verdüsterte sich und löste seinen Finger aus der Hand des Mädchens. Er musste daran denken, dass ihm Pierre keine Enkel mehr schenken würde.
»Wir werden Florence finden und sie ebenso wie das Kind heilen«, flüsterte er. »Ich werde annehmen, dass es Pierres Kind ist, und ich werde ein aufopfernder Vater und Großvater für Florence und ihr Kind sein, um sie vergessen zu lassen, was sie durchlitten haben.« Er rang sichtlich mit den Tränen.
Gregoria fühlte eine unsichtbare Schnur, die sich um ihre Kehle legte und es ihr unmöglich machte zu schlucken. Wieder stand sie dicht davor, ihm die Wahrheit über Marianna zu sagen.
Jean stand auf. »Ich werde Anfang Mai ins Gevaudan reisen, um zu sehen, ob Florence dort erscheint. Die Seraphim werden dich vor dem Comte und Rotonda schützen.« Seine Finger umschlossen ihre rechte Hand. »Ich werde schnell wieder zurückkommen. Sei unbesorgt.« Er ließ sie los und ging zur Tür.
»Warte.« Gregoria krächzte mehr als sie sprach. Erneut war die Gelegenheit, um ihm von seiner Tochter zu berichten, verstrichen. Sie ging zu ihrem Schrank und nahm ein kleines eisernes Döschen hervor. »Nimm das Sanctum mit. Es müsste reichen. Die Ration, die für Rotonda bestimmt war, hat unsere Vorräte aufgefüllt.«
Er steckte es ein, nickte ihr zu und verließ die Kammer.
Gregoria sackte auf den Stuhl neben der Wiege, legte die Arme darüber und weinte. Es war der einzige Ort, an dem sie Schwäche zeigen durfte. Nicht vor den Seraphim, nicht vor den Schwestern und Novizinnen, nicht vor Jean. Die kleine Marianna würde sie nicht verraten.
XIX.
KAPITEL
Italien, Rom, 30. November 2004, 19.51 Uhr
Es war noch kälter geworden, oder wie die Römer sagten: Jemand hatte in den Alpen ein Fenster offen gelassen, und nun kam die Winterluft aus Tirol ins italienische Land.
Eric saß ausnahmsweise nicht im Porsche, sondern in einer der vielen kleinen Trattorias von Trastevere und beobachtete die pittoreske Kirche auf der anderen Straßenseite. Das Licht brannte noch, und wenn der eisige Wind drehte, vernahm man ganz leise die Töne einer
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