Sanctum
Euch wenigstens für diesen Moment die Sorge rauben kann.« Lentolo stand auf und reichte ihr die Hand. »Ich kehre nach Rom zurück und erstatte Seiner Eminenz Bericht. Habt Ihr noch Wünsche?«
»Nein, keine.«
»Und was ist mit dem Mädchen? Wie war ihr Name noch gleich … Marianna? Ist mit ihr alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich.« Gregoria vernahm sehr wohl, dass Lentolo die Frage in einen harmlosen Tonfall kleidete, aber die Augen schauten an ihr vorbei, damit sie darin nicht mehr erkundete. »Weswegen fragt Ihr?«
»Weil auf ihr große Hoffnungen ruhen, Äbtissin. Eine göttliche Vision hat sie als Eure Nachfolgerin bestimmt, daher sind wir alle sehr daran interessiert, dass es Marianna gut ergeht und an nichts mangelt.« Er lächelte, doch Gregoria konnte die Falschheit dahinter erkennen. Sie schauderte. »Versteht es nicht als Kritik oder Misstrauen an Euch und Eurem Sachverstand, wenn es um das Aufziehen eines kleinen Menschenkindes geht.«
»Nein, sicherlich nicht.« Sie lächelte ebenso falsch zurück.
»Dann bringt mich zu ihr. Ich möchte sie gerne sehen, die kleine Marianna.«
»Jederzeit gerne … nur im Moment wird es nicht möglich sein. Die Kleine hat ein Fieber, das ansteckend ist. Wir wollen nicht riskieren, dass Ihr die Krankheit mitnehmt und an Seine Eminenz weiterreicht, nicht wahr? Aber kommt uns bald wieder besuchen, dann wird es ihr besser gehen.«
Gregoria erhob sich ebenfalls und geleitete ihn zur Tür. Sie sah ihm vom Fenster aus nach, wie er durch den Sonnenschein über den Hof zu seiner Kutsche marschierte, einstieg und losfuhr, ohne einen Blick aus dem Fenster zu werfen.
Sie wandte sich um und verließ das Besuchszimmer, um Florence aufzusuchen. Gregoria war unglaublich froh darüber, dass das Sanctum ihr Mündel nicht getötet hatte wie Roscolio. Und doch fragte sie sich oft, warum das göttliche Vermächtnis so unterschiedliche Wirkungen zeigte: Der eine starb auf grässliche Weise, die andere wurde geheilt. Gregoria hatte zwar nie zugelassen, dass ihr Gottvertrauen ins Wanken geriet, dennoch musste sie sich im Nachhinein Zweifel und Ängste eingestehen. Sie hätte es nicht verkraftet, wäre Florences Leib vor ihren Augen zerrissen worden wie der des Panterwesens.
Ihr Mündel befand sich auf ihrem Zimmer und saß bei Gregorias Eintreten auf der Couch über einem Bündel Blätter. Sie hatte die langen braunen Haare zu einem Zopf gebunden, trug eine dunkelrote Bluse und einen weißen Rock, die Füße steckten in flachen Riemenschuhen. Marianna lag in ihrem Bettchen und schlief friedlich. »Ehrwürdige Äbtissin«, grüßte sie und legte ihre Lektüre zur Seite; es waren die Aufzeichnungen über Wandelwesen, die Sarai bei der Ausbildung der Seraphim benutzte.
»Florence, was möchtest du damit?« Gregoria spürte Angst in sich aufsteigen. »Ich habe dich nicht nach so langer Zeit gefunden, um dich in den Krieg gegen die Bestien zu schicken.«
»Ich war eine von ihnen, ehrwürdige Äbtissin. Ich verstehe sie besser als jede Seraph«, entgegnete sie sachte, aber nachdrücklich. »Seit mich das Sanctum heilte, kehren Bilder und Erinnerungen zu mir zurück, die vorher tief in mir verborgen gewesen sein müssen. Ich vermag mich nun an Dinge zu erinnern, die …« Sie blickte zu Boden. »Niemand kennt eine Bestie besser als ich«, fuhr sie dann fort. »Nicht einmal Monsieur Chastel.«
Gregoria setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Du willst allen Ernstes eine Seraph werden?«
Florence nickte. »Ich bin es der Welt schuldig. Ich habe als Bestie Verderben gebracht und an meinen eigenen unschuldigen Sohn das Erbe des Bösen weitergegeben, daher liegt es nach meiner Läuterung an mir, das Böse zu bekämpfen.« Sie schaute zum Bettchen. »Selbst meine unschuldige Schwester hätte ich infiziert. Ohne das Sanctum aus Euren Händen würde sie als Heranwachsende zu einem Ungeheuer werden, wie ich eines war.« Sie drückte Gregorias Finger. »Ich kann Euch niemals für das danken, was Ihr für mich auf Euch nahmt. Schon allein deswegen muss ich eine Seraph werden und gemeinsam mit Monsieur Chastel durch die Wälder ziehen. Wo er doch keine Söhne mehr hat. Pierre …« Sie schluchzte plötzlich, die Trauer überfiel sie und riss ihr die Maske der Tapferkeit vom Gesicht.
Gregoria nahm sie in die Arme und gab ihr den Halt, wie sie ihn selbst sich dringend von Jean wünschte.
»Ich habe schreckliche Angst um meinen Sohn«, sagte Florence weinend und klammerte sich fest an ihre
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