Sanctum
Wäre der Lkw mit dem hohen Planenaufbau nicht in genau dem Moment die Straße entlanggefahren, in dem er aus dem Fenster stürzte, und er nicht darauf gelandet, läge er jetzt entweder mit zerschmettertem Schädel in einer italienischen Pathologie – oder angekettet in einem Kerker von Zanettini.
Bei seiner Flucht aus Rom hatte er bewusst Flughäfen und Bahnhöfe gemieden, weil er befürchten musste, dass ihn Zanettinis Leute dort zuerst suchen würden. Stattdessen hatte er sich in den Bus einer deutschen Reisegruppe eingeschmuggelt, war später per Anhalter gefahren und so zwar langsam, aber unerkannt nach München gekommen. Dort lag am Flughafen – Anatol sei Dank – bereits ein Notfallkoffer bereit: Reisepass, Geld, Kleidung, Flugticket. Und ein neues Handy. Sein altes hatte den Aufschlag auf den LKW nicht überstanden. Somit gab es keine Möglichkeit, die Schwesternschaft zu kontaktieren. Eric verfluchte sich für sein schlechtes Zahlengedächtnis und dafür, dass er Faustitias Nummer nur eingespeichert und nirgendwo aufgeschrieben hatte. Nicht nur die italienischen, sondern auch die internationalen Nachrichtensendern brachten Berichte über die Schießerei im Palazzo. Es war die Rede von einem verwirrten Mann, einem angeblichen Satanisten, der einem Padre und einem Kardinal aufgelauert und einen von ihnen ermordet hatte. Als Eric die Meldung zum ersten Mal an einer Raststätte auf einem kleinen Fernsehschirm sah, war ihm fast das Herz stehen geblieben. Doch dann wurde ein Bild des von privaten Sicherheitskräften niedergestreckten Attentäters gezeigt. Eric kannte den Mann nicht, der als Satanist präsentiert wurde. Zanettini hatte wohl kein Interesse daran, dass Eric ins Visier der Polizei geriet, und sich stattdessen irgendeinen Sündenbock geschaffen. Die Welt war erschüttert ob der Brutalität des Mordes an Padre Rotonda. Hätte dieselbe Welt von den Machenschaften des heuchlerischen Diener Gottes gewusst, wäre Eric wohl ein Orden verliehen worden.
Er seufzte, nahm sein neues Handy und schaute angestrengt auf die Ziffern. Irgendetwas mit einer Fünf, einer Acht und einer … Sieben? Ihm fiel Faustitias Nummer einfach nicht ein, viermal hatte er sich bereits verwählt.
Eric seufzte und sah erstaunt auf, als Anatol vor der Tür vorbeilief; er hatte gedacht, der Mann wäre längst nach Hause gegangen. In seiner Hand hielt er ein helles Fellbündel.
»Was haben Sie da, Anatol?«
»Nichts. Nur mal wieder eine streunende Katze«, bekam er zur Antwort. »Fragen Sie mich bitte nicht, wie die ins Haus gekommen ist … Ich setze sie sofort an die frische Luft.«
Eric musste an Severinas Reaktion in Rom denken.
»Nein, lassen Sie den Streuner hier … und stellen Sie ihm eine Schüssel Milch hin«, rief er. »Und dann gehen Sie, Anatol. Ich brauche Sie heute nicht mehr.«
Anatol lief wieder zurück, ohne etwas zu sagen. Das war auch eine Möglichkeit, sich zu wundern.
Eric stand auf und ging zur Staffelei, auf der ein angefangenes Bild auf ihn wartete. Es zeigte eine düstere Moorlandschaft, die Caspar David Friedrich kaum besser hätte malen können. In ihrer Mitte stand, als Kontrast zu den klaren Linien, eine abstrahierte, wie mit Weichzeichner aufgenommene Männerfigur, die zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Werwolf war; Mund und Schnauze waren weit aufgerissen, die Gesichter und Augen waren voller Qualen. Die Hand des Werwolfs hatte sich in den Brustkorb des Menschen gebohrt und hielt sein Herz umklammert.
Eric nahm das Weiß, mischte es mit etwas Braun, dann mit Gelb und fügte einen überdimensionalen, knochenweißen Vollmond hinzu. Er versuchte, seine Ängste auf die Leinwand zu bannen, doch es funktionierte nicht. Aber so schnell gab Eric nicht auf. Er ging in die Garage und kehrte kurze Zeit später mit einer Gartenkralle zurück, mit der Anatol die Wege harkte. Eric hieb sie in die Leinwand und zog tiefe Schnitte hinein, malte mit ungestümen Bewegungen dunkelrote Blutbahnen darunter, trat ein paar Schritte zurück … nichts. Keine Reaktion.
Eric nahm das Bild von der Staffelei, stellte es in den riesigen Kamin. Es dauerte nur ein paar Minuten, da leckten Flammen über den Stoff, trockneten die Ölfarben und verbrannten sie gleich darauf. Mensch und Bestie vergingen gemeinsam. Und doch verspürte Eric keinerlei Erleichterung. »Scheißbild«, murmelte er und kehrte in seinen Sessel zurück. Die Maltherapie griff nicht mehr. Weder nahm sie ihm die Ängste noch lenkte sie ihn so sehr ab, dass
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