Sanctum
und Majestätisches, das musste er ihr lassen.
Ein Gedanke durchzuckte ihn.
Löwen!
Es war verrückt und entsprang vermutlich seiner absoluten Planlosigkeit, aber die meisten wilden Tiere außerhalb eines Zoos oder Nationalparks fand man …
Eric war plötzlich wieder hellwach. Er stellte den Wodka ab und eilte hinauf in sein Zimmer. In aller Eile packte er einen Koffer.
Frankreich, Saugues, 3. Dezember 2004, 22.07 Uhr
An manchen Orten hatte man das Gefühl, schon einmal da gewesen zu sein. Eric jedenfalls ging es so, als er in Saugues stand, einen Seesack auf der Schulter und eine Sporttasche in der Hand. Er betrachtete den winterlichen Tours d’Anglais, den Englischen Turm, der in dem Zweitausend-Seelen-Ort mit den flachen Häusern einem Fremdkörper glich. Auf Eric wirkte er wie ein abgestürztes Raumschiff, das sich mit dem Cockpit voran in die Erde gebohrt hatte. Er wunderte sich immer noch, wie sich der Zirkus Fratini in diese Gegend verirren konnte, in dem die Sattelschlepperfahrer vor jeder Kurve hupten und beteten, dass ihnen keiner entgegenkam.
Er ließ seinen Porsche Cayenne nahe des Turms stehen, strich durch die verlassenen, vom eiskalten Wind regierten Straßen und hielt nach einem Café oder einer Bar Ausschau, wo er Auskünfte über den Zirkus einholen könnte. Ein Hotel oder eine Pension wäre auch nicht schlecht. Zum Glück wusste er einiges über diese Region, hatte sich vorsorglich Thermowäsche besorgt; die Kälte tat den Muskeln nicht gut.
Im La Tourelle wurde er schließlich fündig: ein kleines, turmähnliches Hotel, das sich zwar nur mit einem lumpigen Stern schmücken konnte, dafür aber viel Gemütlichkeit bot, wie er bei einem schnellen Blick durch ein Fenster sehen konnte. Dirigé par la famille Maizière depuis 1789, stand auf dem Türschild. Klang Vertrauen erweckend. Eric trat ein, stellte sein Gepäck in der Gaststube ab und sah zum Wirt, der wohl Mitte fünfzig war und eisern die Tradition des schmalen Oberlippenbarts verteidigte. Er trug einen alten karierten Pullover mit einem Hemd darunter, die dunkelblonden kurzen Haare sprossen nur noch im Nacken und an den Seiten des Schädels, die klassische Lorbeerkranzfrisur. »Bonsoir, Monsieur Maiziere. Haben Sie ein Zimmer für mich?«
»Sicher, Monsieur. Sie haben die freie Auswahl, denn im Moment«, er nickte auf die Straße, »ist nicht gerade Hauptsaison bei uns.« Er langte unter den Tresen, wobei Eric kurz dachte, er würde eine Schrotflinte zücken, dann legte er einen Schlüssel auf das abgegriffene, verschrammte Holz. Bar und Rezeption in einem. »Voilà, Monsieur. Zimmer zwei.«
»Danke sehr.« Er nahm den Schlüssel.
»Was ist passiert? Ist Ihnen das Auto verreckt?« Maiziere lächelte und zeigte von Nikotin und Kaffee gefärbte Zähne. »Ich kann Ihnen einen hervorragenden Mechaniker empfehlen.«
»Nein, ich mache gerade Urlaub und fahre einfach so durch Frankreich. Improvisationsferien.«
»Was?« Maiziere zündete sich eine Zigarette an und konnte es nicht glauben. »Und da suchen Sie sich ausgerechnet den Winter aus, um sich das Gevaudan anzuschauen?« Er lachte. »Verzeihen Sie, aber das ist … Mon dieu! Im Winter!«
»Dann gibt es hier weniger Touristen. Mir geht es um das Entdecken.«
Maiziere bediente den Zapfhahn, schenkte ein Bier ein und stellte es vor Eric. »Respekt, Monsieur. Das geht aufs Haus. Voilà pour votre peine. Vous l’avez bien méritée!« Er zapfte sich ebenfalls eins und stieß mit Eric an. »Sie müssen ein guter Fahrer sein, wenn Sie es über die Straßen geschafft haben.«
»Eher Besitzer eines guten Autos.« Eric lächelte. Die Art des Mannes gefiel ihm. Er prostete ihm zu und nahm einen Schluck. »Die Fahrer der Lkw sind wohl besser als ich.«
Sie lachten gemeinsam. Der Mann schaute auf Erics Gepäck. »Richten Sie sich doch erst einmal ein, Monsieur. Danach kommen Sie runter, und meine Frau macht Ihnen etwas Leckeres zu essen.«
»Das ist ein Wort.« Eric nahm seine Taschen und trug sie die schmale Treppe hinauf, die Stufen ächzten und knarrten unter dem Gewicht. Er kam an unzähligen Bildern aus dem 18. und 19. Jahrhundert vorbei, auf denen zeitgenössische Darstellungen der Bestie zu sehen waren. Einige von ihnen zeigten ein Wesen, das nur der Fantasie des Zeichners entsprungen sein konnte und mehr einem Schäferhund als einem Wolf glich. Andere dagegen trafen das Äußere der Bestie ziemlich gut, die damaligen Augenzeugen mussten sie sehr genau beschrieben haben.
In
Weitere Kostenlose Bücher