Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
Lust hatte, war eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater.
»Unbedingt!«
Cassie hätte sich gern davor gedrückt, doch sie wählte die Nummer ihres Vaters, ging ins Büro und kehrte ihrer Mutter den Rücken zu, als ihr Vater sich mit barscher Stimme meldete. »Hi, Daddy.«
»Cass.«
Als Cassie die Wärme in seinem Tonfall hörte, fehlte er ihr plötzlich ganz furchtbar. Sie wusste, dass er als Ehemann nichts getaugt hatte und als Vater manchmal auch nicht, aber er war schließlich der einzige, den sie hatte.
»Was gibt’s?«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Gott, sie wollte ihn doch nicht enttäuschen. Sie seufzte, wischte sich die Tränen aus den Augen und gestand: »Ich habe Mist gebaut.« Dann erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Nun ja, sie verschwieg, dass sie Gras geraucht und mit einem Jungen herumgemacht hatte – sie wollte ihn nicht unnötig zur Raserei treiben –, aber den Rest erzählte sie ihm, einschließlich der Tatsache, dass sie nachts heimlich von zu Hause abgehauen, mit Josh zu dem Tatort gefahren und vom Sheriff nach Hause gebracht worden war.
Die ganze Zeit über sagte er kein einziges Wort.
»War das alles?«, fragte er, als sie schließlich verstummte.
»Ja.«
»Hast du was daraus gelernt?«
»Dass ich mich nicht erwischen lassen darf?«, versuchte sie zu scherzen, obwohl ihr die Tränen über die Wangen liefen.
»Na, ich glaube, du weißt es besser. Versuch mal, ein wenig Rücksicht auf deine Mom zu nehmen, ja?«
»Ja.« Sie schniefte laut. »Was meinst du … Ob ich wohl nach Hause kommen könnte?«
Eine Pause.
Cassies Herz wurde schwer.
»Zu Weihnachten?«
»Ich dachte eigentlich …«
»Ich würde mich freuen!«, fiel er ihr ins Wort, bevor sie eingestehen konnte, dass sie am liebsten für immer zurück nach L. A. ziehen wollte. »Allerdings planen wir, ein paar Tage im Ferienhaus von Tammys Familie in Tahoe zu verbringen. Ich bin schon seit Jahren nicht mehr Ski gelaufen.« Seit dem Unfall bei den Dreharbeiten zu White Out nicht mehr , dachte sie. »Aber ich könnte ja mal nachfragen, ob da auch noch Platz für dich wäre …« Er sprach nicht weiter. Cassie schluckte die nachdrängenden Tränen hinunter. Er versuchte sie auf elegante Weise abzuwimmeln. Er sprach es zwar nicht aus, aber der Besuch seiner Tochter käme ihm ungelegen.
»Wahrscheinlich würde es ohnehin nicht klappen. Mom will ja unbedingt, dass Allie und ich hier bleiben.«
»Vielleicht in den Frühlingsferien … Ach, verflixt, das geht auch nicht. Ich habe ein neues Filmprojekt, und wir fangen im März mit den Dreharbeiten an. Vielleicht kann ich mir ein paar Tage freinehmen und euch besuchen. Wir drehen in Vancouver, B. C. Oder ihr Mädchen könntet mit dem Flugzeug zu mir kommen!« Er sagte das mit großer Begeisterung. Als ob es ihm ernst damit sei. Was es vermutlich auch war, im Moment jedenfalls. »Ich werde mit eurer Mutter darüber reden. Versprochen. Also … mach ihr bitte keinen Ärger mehr.«
»Nein«, brachte sie hervor und unterdrückte mühsam ein Schniefen. Er sollte nicht wissen, wie sehr er sie verletzt hatte.
»Gut, dann wäre damit wohl alles okay?«
Okay? War er verrückt geworden? »Ja«, schwindelte sie. Dabei war überhaupt nichts okay. Nichts würde jemals wieder okay sein.
»Braves Mädchen. Soll ich noch mit deiner Mutter sprechen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf, als könnte er sie durch die Leitung hindurch sehen.
»Gut. Ich rufe bald wieder an. Hab dich lieb … Ach, ist Allie noch wach? Ich sollte wohl mal kurz mit ihr reden.«
Das ärgerte Cassie. Natürlich sollte er das! »Ich hole sie.« Sie ging in die Küche, sagte leise: »Dad will mit dir reden«, und reichte Allie den Hörer. Bevor noch jemand irgendetwas sagen konnte, verlor sie völlig die Fassung, hastete die Treppe hinauf in ihr Zimmer und warf sich aufs Bett. Sie würde nicht weinen. Um nichts in der Welt. Nicht, wenn ihre Mutter oder ihre Schwester sie hören konnten. Trotzdem rannen heiße Tränen aus ihren Augen.
Sie lief ins Bad, verriegelte die Tür und stellte das Radio auf volle Lautstärke. Dann drehte sie den Wasserhahn und die Dusche auf, legte ein nasses Handtuch über ihr Gesicht und stieß kleine Schluchzer aus, gerade genug, um ein bisschen von ihrer Seelenqual herauszulassen, aber nicht so viel, dass jemand sie hätte hören können.
»Mistkerl«, flüsterte sie und meinte damit ihren Vater. Das Problem war nur, dass sie ihn liebte. Irgendwie musste es ihr gelingen,
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