Sanft will ich dich töten: Thriller (German Edition)
dieses alberne Gefühl auszuschalten. Ihm lag im Grunde nichts an ihr. Er hatte sich während der Scheidung nicht einmal um das Sorgerecht bemüht. So ein Weichei! Schniefend tupfte sie ihre Augen ab. Robert Kramer war es nicht wert, dass sie seinetwegen so litt.
Und was ist mit Josh?
Gute Frage. Und schwer zu beantworten.
Wenn du noch in L. A. wärst, würdest du dann an einen Jungen wie Josh Sykes auch nur einen zweiten Blick verschwenden? Oder würdest du ihn nicht vielmehr für einen Typen halten, dem man am besten aus dem Weg geht, für einen Menschen, dem die Natur nicht viel mit auf den Weg gegeben hat?
»Himmel, ich weiß es doch nicht.«
Sicher weißt du das. Denk an Mike Cavaletti und Noel Fedderson und Brent Elders!
Die Jungen, für die sie in Südkalifornien heimlich geschwärmt hatte. Braun gebrannt, intelligent, privilegiert, weltgewandt …
»Snobs«, sagte sie leise.
Wie du. Bist du nicht im Grunde genauso wie sie? Wie würde es dir gefallen, wenn deine Freunde in L. A. dich mit Josh gesehen hätten, da oben im Schnee am Schauplatz eines Verbrechens … wo der Sheriff dich in seinen Wagen packt und dich wie eine Verbrecherin zurück zu deiner Mutter schleppt …
»Mist, Mist, Mist!«, sagte sie plötzlich, wütend über ihre Lage, wütend auf ihre Familie, auf die ganze verdammte Welt. Sie zog sich aus, stellte sich unter die Dusche und ließ den heißen Wasserstrahl auf ihr Gesicht und ihren Körper prasseln. Sie hatte es satt, sich von ihrer Mutter bevormunden zu lassen, hatte ihre blöde Schwester satt, ihren Vater, der ihnen allen aus dem Weg ging, und Josh, der sie drängte, Dinge zu tun, von denen sie nicht recht wusste, ob sie sie überhaupt wollte.
»Dann wirst du wohl etwas daran ändern müssen«, knurrte sie. Wie lautete noch dieser spießige Spruch? Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens oder so ähnlich. Kam der Sache ziemlich nahe. An diesem Abend wollte sie sich danach richten. Es war an der Zeit, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nahm. Denn im Grunde gab es niemanden, der sie wirklich kannte, niemanden, der sie verstand, niemanden, dem sie etwas bedeutete. Auch nicht Josh. Josh am allerwenigsten!
Von jetzt an würde sie selbst für sich sorgen.
Aufmerksam richtete er das Fernglas auf das Grundstück. Im Schutz seines Verstecks hoch in den eisüberzogenen Ästen stellte er die Schärfe ein. Das Tor war geschlossen, im Haus brannte Licht. Jenna und ihre Kinder hockten in der Küche zusammen. Sie war in Sorge. Immer wieder hatte sie verstohlene Blicke aus dem Fenster geworfen und schließlich die Jalousien heruntergelassen, sodass ihm die Sicht genommen war.
Nicht , dachte er, konnte jedoch nichts dagegen unternehmen.
Mach sie wieder auf , befahl er stumm und ließ den Blick verzweifelt von einem verdunkelten Zimmer zum nächsten wandern, doch sie ging an keinem Fenster ohne Jalousie vorüber, zeigte sich ihm nicht.
Zorn wallte in ihm auf.
Schließ mich nicht aus. Bitte nicht …
Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, stolperten über Erinnerungen an kalte Winter und zugeschlagene Türen. Auch noch nach ›dem Vorfall‹, wie man das Geschehene später nannte, blieben ihm die Türen verschlossen.
»Mama, nein!«, sagte er laut und erschrak über sich selbst.
Er zitterte, als er in seiner Erinnerung wieder das hässliche Geräusch von Eis hörte, das langsam brach. Er und Nina waren über den im Mondschein silbern schimmernden zugefrorenen See gewandert, ganz mit sich selbst beschäftigt, während am Himmel hoch über ihnen die Sterne funkelten. Er spürte wieder die Wärme ihrer bloßen Hand durch seinen Handschuh hindurch, bemerkte, wie ihr Nachthemd wehte und ihre schmalen weißen Knöchel umspielte. Ihr schwarzes Haar war zerzaust und struppig, und ihre Augen versprachen Genüsse, die er sich kaum vorstellen konnte. Sie küssten sich. Oft. Durch die Knopfleiste ihres Nachthemds erhaschte er einen Blick auf ihre Brust – klein, rund, mit einer verlockenden dunklen Spitze, die hart war vor Kälte.
»Komm mit mir«, hatte er kurz zuvor gesagt, nachdem er an ihr Schlafzimmerfenster geklopft hatte. Sie hatte rasch den Riegel zurückgeschoben und war aus dem Fenster geschlüpft, während ihre kleine Schwester im oberen Stock des Etagenbetts weiter schnarchte. Sie legte ihm sanft einen Finger an die Lippen, damit er still war, und er grinste, wartete, bis sie ihre pelzgefütterten Schuhe angezogen hatte, nahm dann ihre Hand und führte sie
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