Sara Linton 01 - Tote Augen
oben verbracht hatte, sich die Seele aus dem Leib geweint und darauf gewartet hatte, dass jemand kam.
Der Sanitäter keuchte überrascht auf. Er rief seinen Partner, während er Faith das Baby abnahm. Die Windel war voll. Der Bauch des Jungen war aufgebläht.
» Er ist dehydriert.« Der Sanitäter kontrollierte die Pupillenreaktion, schob die aufgesprungenen Lippen zurück, um das Zahnfleisch zu untersuchen. » Unterernährt.«
Will fragte: » Kommt er wieder in Ordnung?«
Der Mann schüttelte den Kopf. » Ich weiß es nicht. Er ist in einem sehr schlechten Zustand.«
» Wie lange …« Faith versagte die Stimme. » Wie lange liegt er schon hier?«
» Ich weiß es nicht«, wiederholte der Mann. » Einen Tag. Vielleicht zwei.«
» Zwei Tage?«, fragte Will, der sicher war, dass der Mann sich irrte. » Die Mutter ist seit mindestens einer Woche verschwunden, vielleicht noch länger.«
» Nach mehr als einer Woche wäre er tot.« Behutsam drehte der Sanitäter den Jungen um. » Er hat Druckstellen, weil er zu lange in derselben Position lag.« Er fluchte leise. » Ich weiß nicht, wie lange es dauert, bis so etwas passiert, aber irgendjemand muss ihm zumindest Wasser gegeben haben. Ohne das kann man nicht überleben.«
Faith sagte: » Vielleicht die Prostituierte …«
Sie beendete den Satz nicht, aber Will wusste, was sie sagen wollte. Wahrscheinlich hatte Lola auf Annas Baby aufgepasst, nachdem Anna entführt worden war. Dann war sie verhaftet worden, und niemand kümmerte sich mehr um das Kind. » Wenn Lola sich um ihn gekümmert hat«, sagte Will, » dann musste sie das Gebäude betreten und verlassen können.«
Die Aufzugstür ging auf. Will sah einen zweiten Polizisten neben Simkov, dem Portier, stehen. Unter dem Auge hatte er eine verfärbte Stelle, und seine Augenbraue, die auf die Tischplatte geknallt war, war geplatzt.
» Der da.« Der Portier deutete triumphierend auf Will. » Der da hat mich misshandelt.«
Will ballte die Fäuste. Seine Kiefermuskeln verkrampften sich so sehr, dass er schon Angst hatte, die Zähne würden ihm herausbrechen. » Wussten Sie, dass dieses Baby hier oben war?«
Das höhnische Grinsen des Mannes war wieder da. » Was weiß denn ich von einem Baby? Vielleicht der Kerl von der Nachtschicht …« Er brach ab und schaute in die offene Tür des Penthouses. » Jesus, Maria und Joseph«, murmelte er und sagte dann etwas in einer fremden Sprache. » Was haben die hier oben denn getrieben?«
» Wer?«, fragte Will. » Wer war hier oben?«
» Ist dieser Mann tot?«, fragte Simkov und starrte in das verwüstete Penthouse. » O Mann, so was muss man erst mal gesehen haben. Und der Gestank!« Er versuchte, die Wohnung zu betreten, doch der Polizist riss ihn zurück.
Will gab dem Portier noch eine Chance. Er sprach jedes Wort seiner Frage sorgfältig aus. » Wussten Sie, dass hier oben ein Baby war?«
Simkov zuckte die Achseln, sodass seine Schultern bis zu den Ohren hochwanderten. » Woher, zum Teufel, soll ich denn wissen, was hier oben bei den reichen Leuten abgeht? Ich verdiene acht Dollar pro Stunde, und Sie wollen, dass ich weiß, wie die ihr Leben führen?«
» Da ist ein Baby«, sagte Will, so wütend, dass er kaum reden konnte. » Ein kleines Baby in Lebensgefahr.«
» Dann ist da eben ein Baby. Was geht das mich an?«
Die Wut kam mit einer solchen schwarzen, blinden Intensität, dass Will erst merkte, was er tat, als er den Mann gepackt hatte und seine Faust wie ein Vorschlaghammer auf ihn einprügelte. Und er hörte nicht auf damit. Er wollte nicht aufhören. Er dachte an das Baby, das in seiner eigenen Scheiße lag, das der Mörder in diese Müllkammer gesteckt hatte, damit es dort verhungerte, an die Prostituierte, die Informationen über ihn verhökern wollte, um den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und an Angie … da thronte Angie ganz oben auf diesem Haufen Exkremente und zog an Wills Fäden, wie sie es immer tat, spukte in seinem Kopf herum, sodass er sich vorkam, als gehöre er zusammen mit all den anderen auf diesen Müllhaufen.
» Will!«, kreischte Faith. Sie streckte die Hände vor sich aus, wie man es tut, wenn man mit einem Verrückten spricht. Will spürte einen scharfen Schmerz zwischen den Schulterblättern, als die beiden Polizisten ihm die Hände auf den Rücken drückten. Er keuchte wie ein tollwütiger Hund. Schweiß lief ihm übers Gesicht.
» Okay«, sagte Faith und kam, die Hände noch immer ausgestreckt, auf ihn zu. » Ganz
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