Satori - Winslow, D: Satori - Satori
»Was du hier siehst, siehst du lieber nicht.«
Er zeigte auf die andere Seite des Flusses. »Da drüben liegt Siam. Das Land der Thai. Außerdem das Land des Klatschmohns. Das ist das Hauptanbaugebiet für Opium, und von hier an flussabwärts wird der Mekong zu einer Art Autobahn für den Drogentransport. Die Hmong bauen es an, die Thai auch. So ernähren die ihre Kinder.«
»Verstehe.«
»Gut«, sagte Tasser. »Wir lächeln, kaufen Vorräte und schwingen uns so schnell wie möglich wieder aufs Wasser.«
Nikolai blieb auf dem Floß, während Tasser mit zwei Männern loszog, um einzukaufen. Nackte Hmong-Kinder hüpften von einem wackeligen Bambussteg ins Wasser. Die Frauen saßen in ihren eigentümlichen schwarzen Kappen nicht weit davon entfernt, warfen ein wachsames Auge auf ihren Nachwuchs und heimlich auch einen schüchternen Blick auf den groß gewachsenen Europäer auf dem Floß. Nikolai hörte Hunde im Dorf bellen, das allgegenwärtige Blöken der Schafe und das Gackern der Hühner.
Kaum eine Stunde später kehrte Tasser mit einem Netz voller Bananen und anderer Früchte, Gemüse, Reis und geräuchertem Fisch zurück. Als er den Befehl gab, loszumachen und das Floß wieder auf den sanften Strom gleiten zu lassen, schämte Nikolai sich wegen seines Misstrauens. Der Kapitän reichte Nikolai eine Flasche mit einer klaren Flüssigkeit.
»Nimm einen Schluck«, sagte Tasser.
Nikolai trank und hatte das Gefühl, sein Magen, seine Lunge und sein Gehirn stünden in Flammen. »Gütiger Gott, Mann, was ist das?«
»Lao-lao« , erwiderte Tasser. »Selbstgebrannter. Von den Hmong.«
Nikolai half einem der Männer, ein Feuer in dem Kohleofen anzuzünden, und schon bald aßen sie eine köstliche Mahlzeit aus Reis, Fisch und Bananen. Dann war es an ihm, zu rudern, und als er wieder abgelöst wurde, setzte er sich an den Rand und genoss den Anblick der wunderschönen, üppigen Landschaft, der grünen Berge und Kalksteinfelsen.
Zwei Tage später erreichten sie Luang Prabang.
98
Nikolai gab ein seltsames Bild ab, als er das Gasthaus bezog.
Seine Kleidung war zerrissen und schlammverkrustet, seine Haare lang und zerzaust, sein Gesicht wettergegerbt und braungebrannt wie eine Nuss. Mit aristokratischer Unbekümmertheit ignorierte er den starrenden Blick des Mannes am Empfang und verlangte das beste Zimmer, das zur Verfügung stand, vorzugsweise mit Blick auf den Fluss.
»Haben Monsieur Gepäck?«
»Monsieur hat keines.«
»Wird es vielleicht noch vom Flughafen gebracht?«
»Wohl kaum«, sagte Nikolai. Er zog eine Handvoll Scheine aus der Hosentasche und legte sie auf den Empfangstresen.
»Reisepass?«
Nikolai reichte ihm den Reisepass, der ihn als Michel Guibert auswies. Es war ein berechenbares Risiko, eines, das möglicherweise die Fernschreiber in Peking, Moskau und Washington heißlaufen ließ, aber Nikolai bezweifelte es. Luang Prabang war selbst für Indochina provinziell, und man konnte davon ausgehen, dass es hier gar keine Alarmglocken gab, die man hätte läuten können. Der französische Geheimdienst würde natürlich Leute hier haben, aber das hatte Nikolai einkalkuliert.
Der Mitarbeiter schrieb die Angaben aus Nikolais Reisepass ab und gab ihm das Dokument mit einem Schlüssel zurück. »Von Zimmer 203 haben Sie eine herrliche Aussicht auf den Fluss. Möchte Monsieur einen Rasierapparat aufs Zimmer geschickt bekommen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Nikolai. »Außerdem Kaffee, ein Croissant und die aktuellste Tageszeitung, die Sie auftreiben können, bitte.«
Der Mitarbeiter nickte zufrieden.
Sauber und rasiert saß Nikolai auf dem kleinen Balkon und ließ sich das ausgezeichnete Croissant schmecken.
Das Gebäck schien nicht zur intensiven Hitze des späten Vormittags zu passen, schmeckte aber hervorragend zum starken Espresso. Alles wirkte sehr französisch – auch noch, als safrangelb gekleidete junge Mönche auf dem Rückweg von ihrer rituellen, allmorgendlichen Almosensammlung im Gänsemarsch vorbeizogen.
Die Khem Kong Road, eine der Hauptverkehrsstraßen der alten laotischen Königsstadt, führte am Flussufer entlang und war von Geschäften, Restaurants und französischen Cafés gesäumt. Allerhand Gerüche – gedämpfter Fisch und Crêpes – kündeten duftend von der gemischten Kultur des Ortes. Alte buddhistische Tempel fanden sich neben eleganten französischen Herrenhäusern, die mit ihren rot gedeckten Dächern ebenso gut am Mittelmeer hätten stehen können. Wunderschöne
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