Satori - Winslow, D: Satori - Satori
Ahnung, wie das war«, jammerte er, »auf der Flucht zu sein, sich in dieser Bruchbude verstecken zu müssen, nie zu wissen wann … und so fand ich Trost bei einheimischen Lastern.«
Nikolai konnte die Angst und Paranoia, die er ausströmte, förmlich riechen. »Das sehe ich.«
»Arrogantes Arschloch«, fauchte Leotow. »Sie und er, ihr seid beide arrogante Arschlöcher.«
Das »Er« bezog sich, wie Nikolai vermutete, auf den verstorbenen Juri Woroschenin. Leotow langweilte ihn bereits. »Haben Sie die Dokumente?«
»Ich habe sie«, sagte Leotow.
Wie bei ihrer Unterredung in Peking vereinbart, hatte Leotow Woroschenins Reisepass und seine persönlichen Papiere mitgenommen, einschließlich seiner Sparbücher von der Banque de l’Indochine in Saigon, wo der Russe nicht nur ein Konto, sondern auch ein Schließfach auf seinen Namen angemeldet hatte.
»Und?«
»Ich suche ja schon, sehen Sie das nicht?«
Er schob ein paar Kleidungsstücke auf dem Fußboden zur Seite und zog eine kleine Aktenmappe aus Leder hervor, die er triumphierend hoch hielt. »Hier bitte. Hier haben Sie Ihre wertvollen Papiere. Arschlöcher, alle beide.«
Nikolai nahm die Mappe und sah deren Inhalt durch. Woroschenins Reisepass, mehrere Sparbücher, gekritzelte Notizen.
»Wo ist mein Geld?«
Nikolai zog einige Scheine aus der Tasche und gab sie ihm.
»Wo ist der Rest?«, wollte Leotow wissen.
»Ausgemacht war ein Drittel sofort«, erinnerte Nikolai ihn, »und der Rest, wenn ich mir Zugriff zu dem Schließfach verschafft habe.«
Die Dokumente sahen echt aus, aber das konnte man nie sicher wissen, bevor man sie nicht benutzt hatte.
»Wann wird das sein?«, fragte Leotow.
»Morgen. Wir können uns irgendwo treffen.«
»Ich bin kaum in der Lage, das Zimmer hier zu verlassen.«
»Sie gehen doch raus, um Opium zu kaufen oder nicht?«, fragte Nikolai.
»Ein Junge bringt es mir.« Leotow schmunzelte. »Zimmerservice.«
Ich sollte ihn töten, dachte Nikolai. Das wäre das Schlauste und vielleicht auch das Gütigste. Ein Opiumsüchtiger ist ein Pulverfass, ein geistig Inkontinenter, der den Mund aufreißen und jedem alles erzählen wird, was er wissen will.
Tatsächlich hatte er seine Zweifel, ob Leotow es auf die andere Seite des Flusses schaffen würde, um sich den Rest seiner Bezahlung für Woroschenins Dokumente abzuholen, aber sie hatten eine Abmachung. »Ich kann Ihnen auch etwas hierher überweisen, wenn Ihnen das lieber ist. An eine Bank hier im Viertel.«
»Wenn mir das lieber ist«, murmelte Leotow, »wenn mir das lieber ist. Wo ist der verfluchte Junge? Wissen Sie zufällig, wie spät es ist? Ich habe meine Uhr verlegt.«
Nikolai wusste, dass er die Uhr beim Pfandleiher »verlegt« hatte oder sie ihm von dem Opium-Jungen oder einem anderen Bewohner der Absteige gestohlen worden war, wäh rend Leotow in Opiumträumen schwelgte. Er sah auf seine eigene Uhr und sagte: »Halb neun.«
»Wo ist der Junge?«, fragte Leotow. »Weiß er nicht, dass ich … ich brauche das Geld, um aus diesem Dreckloch hier rauszukommen, einen sicheren Ort zu finden, wo ich nicht jede Sekunde über die Schulter gucken muss …«
»Ich empfehle Costa Rica«, sagte Nikolai.
Leotow hörte nicht zu. Er ließ sich in seinen Sessel sacken und starrte aus dem Fenster. Nikolai nahm ihm die Geldscheine aus der Hand und steckte sie ihm in die Hosentasche, damit er zumindest eine Chance hatte, sie wiederzufinden.
Dann verabschiedete er sich.
Auf der Treppe kam ihm der Junge entgegen.
114
Die französische Saxophonistin leckte sich mit der Zunge über die Lippen, sah Nikolai an, nahm das Mundstück in den Mund und begann zu spielen.
Nikolai, der an einem Tisch in der ersten Reihe des Croix du Sud saß, hatte die indiskrete Geste nicht übersehen. Er lächelte zurück und nahm einen Schluck von seinem Brandy Soda, der Spezialität des Clubs. Die reine Frauenband – zwölf Französinnen in hochgeschnittenen, paillettenbesetzten Kleidern – hatte die Swingmelodien von Glenn Miller und Tommy Dorsey ziemlich gut drauf.
Dann sah Nikolai einen gnomartigen Mann, einen Zwerg mit langen Haaren, rotem Bart und einem enormen Bauch, der auf kurzen Säbelbeinen an seinen Tisch gewackelt kam. Schweiß rann ihm über die dicken Wangen, und er ähnelte einer kleinen behaarten Lokomotive kurz vor der Entgleisung.
»Hier herrscht Jagdverbot«, sagte er freundlich, als er sich setzte und mit dem Kinn Richtung Band zeigte. »Das ist Antonuccis Privatrevier.«
»Alle
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