Satori - Winslow, D: Satori - Satori
beobachten. Er prakti zierte hoda korosu , das »Nackt-Töten«. Er schien zu tanzen, aber nachdem Solange ihn einige Nächte lang beobachtet hatte, erkannte sie, dass er zahlreiche imaginäre Feinde bekämpfte, die ihn aus allen Richtungen attackierten, und dass die »Tanzschritte« in Wirklichkeit Bewegungsabläufe zur Verteidigung gegen potenziell tödliche Angriffe waren. Wenn es ein Tanz war, dann ein Todestanz.
Nikolai genoss diese Übungen sehr – es war eine Freude, im Garten zu üben, es beruhigte seinen Geist, und außerdem sagte ihm sein Instinkt, dass er seine eingerosteten Fähigkeiten lieber auf Vordermann brachte, wenn er die Mission überleben wollte, deren vorgegebenes Ziel Haverford noch immer nicht offenbart hatte.
Nikolai übte also beharrlich und stellte erfreut fest, dass sein Körper und sein Geist auch nach jahrelanger relativer Inaktivität – trotz der vielen tausend Liegestützen und Bauchbeugen, die er in seiner Zelle gemacht hatte – noch reagierten und er sich an die komplizierten und akkuraten Bewegungen der hoda korosu kata erinnerte.
Er hatte in seinem zweiten Jahr in Tokio mit dieser verfeinerten Karatevariante – Karate bedeutet »leere Hand« – begonnen und sie von einem alten japanischen Meister dieser todbringenden Kampfkunst gelernt. Der hatte sich zunächst geweigert, einen augenscheinlich aus dem Westen stammenden Anfänger in deren uralte Geheimnisse einzuweihen, aber Nikolai war hartnäckig geblieben, hauptsächlich indem er in schmerzhafter Körperhaltung am Mattenrand gekniet und Abend für Abend zugesehen hatte, bis der Meister ihn endlich zu sich gerufen und ihm eine Tracht Prügel verabreicht hatte, die seine erste von vielen darauffolgenden Lektionen war.
Entscheidend beim hoda korosu war die Beherrschung des ki , der inneren Lebenskraft, die durch die richtige Atmung erreicht wurde. Die tödliche Kraft des hoda korosu , besonders auf kurze Distanz, ist jenem ki zu verdanken, das vom Unterleib ausgehend jede Vene, jede Muskel- und Nervenfaser des Körpers durchströmt.
Die andere notwendige Voraussetzung ist die Fähigkeit, den Geist zu beruhigen und zu befreien, damit er die nötige Kreativität entfalten kann, um bei einem plötzlichen und unerwarteten Angriff unter den verfügbaren Alltagsgegenständen denjenigen auszuwählen, der als tödliche Waffe dienen kann.
Als er die Übungen jetzt wieder aufnahm, empfand er die ersten Abende aufgrund seiner Ungeschicklichkeit als brutal, und hätte er sein Unvermögen nicht fast schon für komisch gehalten, er wäre entsetzt gewesen. Doch seine Schnelligkeit und Stärke entwickelten sich rasch, und es dauerte nicht lange, bis er wieder Geschick und sogar ein gewisses Maß an Eleganz aufrufen konnte. Sein Meister hatte ihn gelehrt – ge legentlich auch mit einer Bambusrute, die er ihm auf den Rücken schlug –, mit äußerster Ernsthaftigkeit zu trainieren und sich seine Feinde vorzustellen, während er sich ihrer entledigte. Nikolai folgte seinem Rat. Er glitt im Garten auf und ab, wiederholte die langwierigen Übungen ein Dutzend Mal, bis sein Gi schweißnass war. Dann belohnte er sich mit einem kurzen Bad, fiel ins Bett und schlief wenig später ein.
Eines Morgens, zwei Wochen nach seiner Ankunft, überraschte Solange ihn mit den Worten: »Heute ist ein großer Tag für Sie, Nikolai.«
»Inwiefern?«
»Die Enthüllung, sozusagen.«
»Wovon …«
»Von Ihnen natürlich«, sagte sie. »Ihrem Gesicht.«
Er hatte einmal wöchentlich die Arztpraxis besucht, um sich von der kräftigen irischen Schwester, die nicht gerade zimperlich mit ihm umging, den Verband erneuern zu lassen. Aber sie hatte ihn absichtlich von allen Spiegeln ferngehalten, bis der Heilungsprozess abgeschlossen war, und jetzt sollte er zum ersten Mal sein wiederhergestelltes Gesicht sehen.
Wenn er nervös oder aufgeregt war, so ließ er es sich nicht anmerken. Es war, als hätte Solange ihm mitgeteilt, sie wolle sich mit ihm eine Fotoausstellung oder einen Film ansehen. Er wirkte teilnahmslos. Ginge es um mich, dachte sie, wäre ich ein nervöses Wrack – er aber blieb so kühl wie ein Morgen im März, so ungerührt wie ein windstiller Teich.
»Der Arzt hat gesagt, ich kann es selbst machen«, sagte Solange.
»Jetzt?«, fragte Nikolai.
»Wenn Sie möchten.«
Nikolai zuckte mit den Schultern. Natürlich freute er sich, den Verband loszuwerden, aber auf sein Gesicht war er nicht allzu neugierig. Er hatte jahrelang in
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