Saturn
halte.
»Wohin ist sie verschwunden? Wo ist sie jetzt?«, fragte
Vyborg mit leiser, zischender Stimme. »Das ist im Moment die
dringlichste Frage.«
»Du musst Eberly Bescheid sagen.«
»Muss ich das? Wieso nicht du? Du bist doch derjenige, der
sie hat entkommen lassen.«
»Du sagst es ihm«, sagte Kananga mit einem harten und
entschlossenen Gesichtsausdruck.
Vyborg versuchte nicht mehr, den Zorn und die Abscheu zu
verbergen, die er verspürte. Er stieß angewidert die Luft aus
und rief: »Telefon! Verbinde mich mit Dr. Eberly, wo auch
immer er ist. Notfall-Priorität.«
Innerhalb von zehn Sekunden erschien Eberlys Gesicht in
der Luft überm Kaffeetisch. Er lächelte glücklich. Vyborg sah
sofort, dass er in Morgenthaus Büro war.
»Ich freue mich, dass Sie anrufen«, sagte Eberly. »Ich habe
nämlich wichtige Neuigkeiten für euch beide.«
»Ich habe leider auch Neuigkeiten«, sagte Vyborg. »Schlechte
Neuigkeiten.«
Eberlys Lächeln verflog. Morgenthau hinter ihm wirkte
plötzlich besorgt.
Es hat keinen Sinn, es hinauszuzögern, beschloss Vyborg.
Sag ihm, was Sache ist. »Holly Lane ist entkommen.«
»Entkommen? Wie meinen Sie das?«
»Anscheinend ist sie eine Kampfsport-Expertin. Sie ist
unserem guten Obersten hier entkommen«, sagte Vyborg mit
einer Geste in Richtung Kananga, der noch immer fix und
fertig auf dem Sofa lag, »und wir haben keine Ahnung, wo sie
steckt.«
Eberly starrte auf die dreidimensionale Abbildung, die die
Hälfte von Morgenthaus Büro ausfüllte: Vyborg stand
angespannt und offensichtlich zornig da, während Kananga
auf dem Sofa lag und sich ein nasses Handtuch auf die Stirn
drückte.
Dann warf er einen Blick auf Morgenthau, deren Ausdruck
langsam von Verwirrung zu Verstehen wechselte. Sie setzt das
Puzzle zusammen, wurde Eberly sich bewusst. Nun weiß sie,
dass ich in den Mordanschlag auf Holly verwickelt bin.
Eberly schüttelte sich in einer Mischung aus Wut und Furcht.
»Ich will euch beide in fünf Minuten in meinem Apartment
sehen«, brachte er mühsam hervor.
Holly rannte blindlings den Kanal entlang, bis die Lunge von
der Anstrengung schmerzte. Sie blieb stehen, bückte sich und
schnaufte schwer. Sie schaute sich um, doch es war niemand
hinter ihr. Er verfolgt mich nicht, sagte sie sich erleichtert. Er
ist wahrscheinlich bewusstlos nach dem Tritt, den ich ihm
versetzt habe. Meine Güte, vielleicht ist er sogar tot. Sie
richtete sich auf und ging die Böschung hinauf in den
schattigen Garten. Geschieht ihm recht, sagte sie sich. Er hat
schließlich versucht, mich umzubringen. Er muss auch Don
Diego umgebracht haben. Okay, sagte sie sich. Kananga hat
Don Diego getötet. Aber wieso? Sie hatte keine Ahnung. Wem
soll ich es sagen? Malcolm?
Dann wurde sie sich jedoch bewusst, dass Malcolm sie zu
diesem Treffen mit Kananga hierher gelotst hatte. Er hatte es
überhaupt erst vorgeschlagen. Malcolm wusste, was hier
vorging. Er ist ein Teil davon ‒ wovon auch immer ‒, sagte sie
sich.
Ihr war zum Weinen zumute. Malcolm ist in die Ermordung
von Don Diego verstrickt. Und er wollte, dass Kananga mich
ermordet!
Wem vermochte sie überhaupt noch zu trauen? An wen
vermochte sie sich zu wenden? Ich kann auch nicht in mein
Apartment zurück ‒ da warten sie vielleicht schon auf mich.
Kris! Ich werde Kris anrufen. Oder vielleicht Manny. Sie
dachte darüber nach, während sie zwischen den Apfelbäumen
am anderen Ende des Gartens hindurchlief. Vor ihr lagen die
Reihen der Beerensträucher und dahinter der Abschluss des
Habitats.
Nicht Manny, beschloss sie. Ich werde nicht wie ein hilfloses,
kleines Mädchen, das den großen, starken Helden um Schutz
bittet, zu ihm laufen. Außerdem würde er mir wahrscheinlich
nicht glauben. Anders als Kris. Kris wird mir glauben. Aber ‒
soll ich sie überhaupt in diese Sache verwickeln?
Sie ging weiter zum Ende des Habitats und sondierte die
Optionen. Dabei stellte sie fest, dass sie nicht viele Optionen
hatte. Falls Eberly dazugehört ‒ wozu auch immer ‒, dann
heißt das, dass Morgenthau und diese Schlange Vyborg auch
dazugehören.
Im Ulmenhain am Ende des Habitats setzte Holly sich müde
ins Gras und versuchte nachzudenken. Wie sie den Blick über
die grüne Landschaft schweifen ließ, wirkte das Habitat
genauso wie an dem Tag, als sie und Kris Cardenas hier Rast
gemacht hatten. Aber es war nichts mehr wie zuvor, sagte
Holly sich mit einem plötzlichen Gefühl der Leere. Ihre
Weitere Kostenlose Bücher