Saturn
Sie sah, dass Malcolm überhaupt
keine persönlichen Gegenstände im Apartment hatte. Es
mutete genauso leer und kahl wie sein Büro an.
Dann studierten die fünf stundenlang die Wahlergebnisse
und pflückten sie auseinander wie Pathologen, die einen
Leichnam sezierten, um festzustellen, was die betreffende
Person vom Leben zum Tode befördert hatte.
Kananga verschwand für eine Weile in der Küche und stellte
dann zu Hollys Überraschung ein Tablett mit belegten Broten
und Getränken auf die Arbeitsplatte, die die Küche vom
Wohnzimmer trennte. Eberly verbiss sich förmlich in die
Statistik und versuchte die Wahlergebnisse nach Alter, Beruf
und Ausbildung zu analysieren. Er wollte bis hinunter zum
einzelnen Wähler wissen, wer weshalb wofür gestimmt hatte.
Vyborg hing das aufgeknöpfte Gewand lose um die
schmalen Schultern. Er rieb sich die Augen und nahm ein
Sandwich vom Tablett.
»Die Wissenschaftler haben mehr oder weniger ›en bloc‹
abgestimmt«, sagte er und wedelte mit dem Sandwich in der
Hand herum. »Das ist erstaunlich.«
»Wieso sind Sie erstaunt?«, fragte Morgenthau. Sie hatte ein
Sandwich angebissen und es dann auf dem Kaffeetisch liegen
lassen. Holly fragte sich, wie sie ihre Körperfülle bewahrte,
wenn sie so wenig aß.
»Wissenschaftler sind Streithammel«, sagte Vyborg. »Sie
streiten sich immer wegen irgendetwas.«
»Über wissenschaftliche Themen«, sagte Eberly. »Aber ihre
Interessen sind andere. Sie haben ›en bloc‹ gewählt, weil sie alle
die gleichen Interessen und Standpunkte haben.«
»Das könnte ein Problem werden«, sagte Kananga.
Eberly schaute wissend. »Glaube ich nicht. Wir brauchen uns
keine Sorgen zu machen.«
Holly verfolgte fasziniert ihre Überlegungen und ließ den
Blick von einem zum andern wandern, während sie die
Wahlergebnisse mit chirurgischer Präzision analysierten. Sie
wurde sich bewusst, dass Morgenthau die Umfrage so
konzipiert hatte, dass sie auch Angaben zur Abteilung
enthielt, in der der Wähler arbeitete und zur beruflichen
Tätigkeit des Wählers. Wenn an der Wahl etwas geheim war,
sagte Holly sich, dann waren es die Namen der Wähler. Im
Übrigen enthielt jede Wahlurne genügend Informationen für
eine detaillierte statistische Analyse.
»Wir werden ein Gegengewicht gegen sie brauchen«, sagte
Vyborg mit vollem Mund.
»Gegen die Wissenschaftler?«, fragte Kananga.
»Ja«, sagte Eberly unwirsch. »Das ist bereits veranlasst
worden.«
Morgenthau schaute Holly wieder mit diesem wissenden
Blick an. »Was ist eigentlich mit Ihrem Bekannten, diesem
Stuntman?«
Holly blinzelte überrascht. »Manny Gaeta?«
»Ja«, sagte Morgenthau. »Er hatte doch Probleme mit den
Wissenschaftlern, oder?«
»Er will zur Titanoberfläche hinunter, aber sie wollen das
erst erlauben, wenn…«
»Die Titanoberfläche?«, unterbrach Eberly sie. »Wieso gerade
dorthin?«
»Er vollführt spektakuläre Stunts und verkauft dann die VR
‒Rechte an die Netze«, erläuterte Holly.
»Auf der Erde ist er äußerst populär«, führte Morgenthau
aus. »Ein umjubelter Videostar.«
»Ein Stuntman«, sagte Vyborg spöttisch.
»Und er liegt mit den Wissenschaftlern im Clinch?«, fragte
Eberly.
»Sie befürchten, dass er die Lebensformen auf dem Titan
kontaminieren würde«, sagte Holly. »Dr. Cardenas versucht,
ihm zu helfen…«
»Cardenas?«, fragte Vyborg schroff. »Die Nanotech-
Expertin?«
»Richtig.«
»Wie gut kennen Sie diesen Stuntman eigentlich?«, fragte
Eberly.
Holly verspürte einen Gewissensbiss. »Wir sind gute
Freunde«, sagte sie schnell.
»Ich möchte ihn kennen lernen«, sagte Eberly. »Holly.
arrangieren Sie es als einen gesellschaftlichen Anlass. Ich
möchte mit Ihnen beiden zu Abend essen. Laden Sie Cardenas
auch ein. Dann wären wir zu viert.«
Holly versuchte die Emotionen zu unterdrücken, die gegen
sie anbrandeten. Mein Gott, sagte sie sich, nun komme ich
endlich zu einem Abendessen mit Malcolm, aber ich soll
ausgerechnet den Typen mitbringen, mit dem ich schlafe!
312 Tage bis zur Ankunft
Von den zwei Restaurants im Habitat war das ›Nemo‹ quasi
das Szene-Restaurant. Wo das Bistro klein und ruhig war und
die meisten Tische ohnehin auf die Wiese ausgelagert waren,
protzte das ›Nemo‹ mit einem gediegenen Ambiente. Das im
Stil eines Unterseeboots eingerichtete Restaurant hatte
gewölbte kahle Metallwände und große Bullaugen, die
spektakuläre holografische Unterwasserszenen
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