saved by an Angel
Gregory vor ein paar Monaten gehalten hatte - in jener Nacht, als Eric sie zu einer Mutprobe herausgefordert hatte. Sie stieg aus und lief das kurze Stück bis zur Doppelbrücke. Die Schienen der neuen Brücke funkelten im späten Nachmittagslicht. Die alte Brücke daneben war eine verrostete orangefarbene Stahlkonstruktion, die in der Mitte zusammengebrochen war. Vom gegenüberliegenden Ufer streckten sich scharfkantige Finger aus Metall und fauligem Holz entgegen, doch die beiden Brückenhälften fanden ebenso wenig zueinander wie die Königskinder.
Als Ivy die nebeneinander verlaufenden Brücken nun deutlich im Sonnenlicht sah, als sie die zwei Meter breite Lücke dazwischen wahrnahm und wie groß der Abstand zum Wasser und den Felsen darunter war, wurde ihr erst klar, welches Risiko Eric eingegangen war, als er vorgab, sich von der Brücke zu stürzen. Was ist damals in Erics Kopf vorgegangen? Entweder war er wahnsinnig oder es war ihm einfach egal, ob er tot oder lebendig war.
Erics Harley war nicht zu sehen, aber es gab genug Bäume und Büsche, hinter denen er sie versteckt haben konnte. Ivy sah sich um, dann kletterte sie vorsichtig die Böschung neben den Brücken hinunter. Einen großen Teil der Strecke ließ sie sich hinunterrutschen, bis sie schließlich einen schmalen Pfad erreichte, der am Fluss entlangführte. Sie versuchte, möglichst leise aufzutreten und lauschte auf jedes Geräusch. Als die Bäume raschelten, sah sie schnell auf und erwartete fast, Eric und Gregory zu sehen - bereit, sich auf ihre Beute zu stürzen.
»Reiß dich zusammen, Ivy«, schalt sie sich, schlich aber trotzdem leise vorwärts. Wenn es ihr gelang, Eric zu überraschen, würde sie vielleicht erkennen, was er vorhatte, und nicht in die Falle tappen.
Ivy sah ein paarmal auf die Uhr. Um fünf nach fünf fragte sie sich, ob sie an dem Wagen vorbeigelaufen war. Doch nach ein paar Metern blitzte etwas vor ihren Augen auf - Metall, das im Sonnenlicht glitzerte. Fünf Meter weiter erkannte sie einen überwachsenen Pfad, der vom Fluss hoch zu einem Metallhaufen führte.
Ivy kämpfte sich durch das Gebüsch und duckte sich, während sie sich heranpirschte. Einmal meinte sie, ein Geräusch hinter sich zu hören, es klang, als würde jemand durch Laub laufen. Sie drehte sich schnell um. Nichts. Nur ein paar Blätter, die im Wind raschelten.
Ivy schob einige lange Zweige zur Seite, machte zwei Schritte nach vorn - und holte tief Luft. Der Wagen sah genauso aus, wie Beth ihn beschrieben hatte: die Achsen waren im Boden versunken, der hintere Teil war mit Ranken überwuchert. Die Kühlerhaube fehlte und das Kunststoffverdeck war zu papierartigen schwarzen Flocken verrottet. Die Türen schimmerten blau - selbst die Farbe hatte Beth in ihrem Traum gesehen.
Die hintere Tür stand offen. Lag eine Decke auf dem Sitz? Was verbarg sich unter der Decke?
Wieder hörte sie ein Rascheln hinter sich. Sie drehte sich schnell um und suchte die Bäume ab. Ihr taten schon die Augen weh, weil sie sich ständig auf jeden Schatten und jedes herumflatternde Blatt konzentrierte und nach dem Umriss von jemandem Ausschau hielt, der sie beobachtete. Doch es war niemand zu sehen.
Sie schaute auf die Uhr. Zehn nach fünf. Eric hätte nicht so schnell aufgegeben. Entweder ist er spät dran oder er wartet darauf, dass ich den ersten Schritt mache. Nun gut, das Wartespielchen können auch zwei spielen, dachte sich Ivy und kauerte sich leise auf den Boden.
Nach ein paar Minuten schmerzten ihre Beine vom Stillsitzen. Sie massierte sie und sah noch einmal auf die Uhr: Viertel nach. Sie wartete weitere fünf Minuten. Vielleicht hatte Eric den Mut verloren.
Ivy stand langsam auf, doch etwas hielt sie davon ab, näher heranzugehen. Sie hörte Beths Warnung so deutlich, als stünde ihre Freundin neben ihr.
»Engel, helft mir«, betete Ivy. Ein Teil von ihr wollte herausfinden, was sich in dem Auto verbarg. Ein anderer Teil wollte jedoch davonlaufen. »Engel, seid ihr da? Tristan, ich brauche dich. Ich brauche dich jetzt!«
Sie ging zögernd auf das Auto zu. Als sie auf die Lichtung kam, blieb sie einen Moment stehen, um zu sehen, ob ihr jemand gefolgt war. Dann beugte sie sich hinunter und warf einen Blick auf den Rücksitz.
Ivy sah noch einmal hin. War das, was sie gesehen hatte, real - oder wieder nur ein Albtraum, wieder einer von Erics Scherzen?
Dann schrie sie; sie schrie, bis sie heiser war. Sie brauchte ihn nicht zu berühren, sie wusste es auch so - er
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