Saving Phoenix Die Macht der Seelen 2: Roman (German Edition)
ansah. Ich zählte zu den wenigen, die in der Community aufgewachsen waren, und die Kinderzeit hatte mir einen gewissen Schutz gewährt; doch jetzt war ich siebzehn und die Sache änderte sich langsam. Ich wollte nicht,dass der Seher auf mich aufmerksam wurde, mich benutzte und dann wegwarf, wie er es schon mit so vielen anderen Frauen getan hatte.
So wie mit meiner Mutter.
Ich schaffte es bis in meine Wohnung, ohne gesehen zu werden. Sobald ich drinnen war, legte ich die mickrige Kette vor; nicht dass sie irgendjemanden aufgehalten hätte, aber ich fühlte mich sicherer. Die Kunst, mit dem Leben in der Community zurechtzukommen, bestand darin, aus den kleinen Gefälligkeiten, die uns der Seher erwies – und Privatsphäre zählte zu den kostbarsten –, das meiste herauszuholen. Meine Wohnung wurde als Warenlager genutzt: geklaute Elektrogeräte, Weinkisten, Kartons voller Lederjacken. Es roch nach Kaufhaus, nicht nach Zuhause. Mir war ein Schlafzimmer mit einem richtigen Bett gewährt worden, eindeutig ein Zeichen der Anerkennung, denn die meisten von uns schliefen auf Matratzen am Boden. Dieses Privileg genossen sonst nur noch die Bodyguards des Sehers und zwei andere jüngere Mitglieder der Community, beides Jungen, Unicorn und Dragon. Schräge Namen, aber ich sollte da wohl ganz still sein, schließlich hieß ich Phoenix. Die beiden standen dem Seher sehr nahe, sodass ihre Vorzugsbehandlung nicht groß überraschte, meine Privilegien hingegen ließen sich nicht so leicht erklären; vermutlich fand unser Anführer meine Gabe sehr nützlich und einzigartig.
Falls sie überhaupt noch funktionierte. Dem Seher würde es nicht gefallen, sollte er erfahren, dass meine besondere Fähigkeit nicht ausnahmslos Wirkung zeigte.Vor dem Coup hatte ich mir gedanklich noch eine Goldmedaille umgehängt, jetzt fühlte ich mich wie ein Läufer, der den schmachvollen letzten Platz belegt hatte. Was auch immer ich dem Jungen noch antun würde, es durfte nie jemand erfahren, dass er in der Lage gewesen war, sich mir zu widersetzen.
Kapitel 3
Neun Uhr abends: die Tageszeit, vor der mir immer graute. Bei Wind und Wetter versammelte sich dann die Community auf dem abgewrackten Spielplatz in der Mitte der Wohnanlage, um dem Seher Bericht zu erstatten. Wie der Papst am Ostersonntag trat der Seher hinaus auf den Laubengang über unseren Köpfen und sah dabei zu, wie seine Handlanger durch die Reihen gingen und die erbeuteten Sachen einsammelten. Danach wurden die Aufgaben für den nächsten Tag verteilt und dann, soweit alles gut war, löste sich die Versammlung auf und wir gingen entweder zurück auf unsere Zimmer oder zogen los, um einen Job zu erledigen.
Soweit alles gut war.
Wenn nicht, wurde der Missetäter für ein Gespräch nach oben zum Seher gebracht. Ich wusste, dass mich sehr wahrscheinlich genau das erwartete: Mit leeren Händen dazustehen würde definitiv zur Folge haben, dass sich der Seher persönlich der Sache annahm.
Ich bereitete mich auf das Treffen vor, indem ich mirein langärmeliges T-Shirt anzog, das meine Brandverletzung verdeckte, und mir einen Handverband anlegte, mit dem es so aussah, als hätte ich mich bloß geschnitten – eine Verletzung, die man sich oft bei Einbrüchen zuzog und die keinen Verdacht erwecken würde. Ich warf einen prüfenden Blick auf meine Erscheinung in der Spiegelscherbe, die über dem Waschbecken im Badezimmer hing. Meine gebräunte Haut ließ meine blauen Augen heller erscheinen als sonst; meine schulterlangen Haare hatte ich mir vor einer Woche zurechtgestutzt und jetzt fielen sie mir in verschieden langen, an den Enden ausgefransten Strähnen ins Gesicht. Es sah besser aus, als ich gedacht hatte, in Anbetracht der stümperhaften Ausführung mithilfe einer Nagelschere. Ohne Schminke und mit einer Reihe schlichter Stecker im Ohr sah ich jünger aus als siebzehn – hoffentlich ein Pluspunkt für mich.
Mein Wecker auf dem Nachttisch piepste und mahnte mich, dass es Zeit für den Appell war. Ich machte mich im Laufschritt auf und stieß zu den anderen, die treppabwärts zum Spielplatz rannten. Keiner sagte etwas: Zu diesem Zeitpunkt waren alle immer sehr angespannt; erst wenn die Tortur überstanden war, nahmen wir uns Zeit, um miteinander zu sprechen. Ich schlüpfte an meinen gewohnten Platz neben dem Karussell und setzte mich dort auf den äußersten Rand. Ich sah Tony drüben bei den Schaukeln herumschleichen. Wie immer hielt er sich möglichst im Hintergrund.
Um Punkt neun
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