Saxnot stirbt nie - Odo und Lupus Kommissare Karls des Grossen - Zweiter Roman
nicht mehr wahr.
Der Schieler kam zurück.
„Wo bleibst du, Wrach? Sie machen das Tor zu. Willst du vielleicht im Stall auf dem Mist schlafen? Verzeihung, Vater …“
Während ich mit dem Alten gesprochen hatte, war der Gesang aus der Baumkrone nicht verstummt. Die Stimme des Sängers, der Nasio hieß und angeblich ein Mönch gewesen war, triumphierte sogar über das Gebrüll einiger Streithähne in der Vorhalle. Es waren drei, die ihr Gezänk plötzlich abbrachen und herausstürzten.
„Maul halten!“, schrie der Erste nach oben.
„Ich lass dir die Luft ab, elende Sackpfeife!“, drohte der Zweite.
„Helko, komm her! Hol die Krähe von ihrem Ast!“, verlangte der Dritte.
Und da kam auch schon der Vierte gelaufen, einen Bogen in der Hand, den Köcher voller Pfeile über der Schulter. Die drei anderen empfingen ihn johlend. Er zog einen Pfeil aus dem Köcher, spannte den Bogen und zielte.
„Bist du von Sinnen?“, rief ich. „Du wirst doch nicht …“
Ich raffte die Kutte und lief dem Schützen entgegen.
Aber zu spät. Ich hörte das trockene Zischen des abgeschossenen Pfeils über meinem Kopf. Entsetzt drehte ich mich um und blickte nach oben. Der Mond war noch nicht wieder erschienen und so konnte man nicht erkennen, wo der Pfeil in die Baumkrone einschlug. Nur ein Rascheln war zu hören. Der Gesang brach mit einem Misston ab. Die Vier stießen einen Jubelschrei aus.
„Was hast du getan, Kerl?“, rief ich.
Noch mehr Männer traten jetzt aus der Vorhalle.
„Hast du ihn erwischt, Helko?“
„Wurde Zeit für ihn.“
„Dem geschieht nichts. Das haben schon andere versucht.“
„Der Pfeil hat sich in den Blättern verfangen.“
„Seid mal still!“, rief der Schütze. „Wenn er hin ist, muss man ihn fallen hören.“
Wir starrten nach oben und lauschten gespannt.
Nichts. Kein Gejammer, keine Schmerzensschreie.
„Verdammt“, sagte Helko. „Er hat wieder Glück gehabt.“
Ringsum wurde gelacht.
Einer rief: „Versuch es noch mal!“
„Untersteh dich!“, fuhr ich dazwischen. „Wage nicht, noch einmal zu schießen!“
„Ach, habt Ihr hier etwas zu bestimmen, Franke?“. fragte Helko herausfordernd.
„Das habe ich!“, sagte ich heftig und vor Empörung zitternd. „Und ob Sachse oder Franke – das ist hier unwichtig! Ich habe gerade erfahren, dass der Mann dort oben ein Mönch war. Wie jeder hören kann, singt er christliche Lieder. Gibt es hier jemanden, dem nicht bekannt ist, was mit ihm geschieht, wenn er einen Christen umbringt?“
Diese Sprache verstanden sie. Einer nach dem anderen verkrümelte sich. Nur Helko blieb stehen, die Hand mit dem Bogen gesenkt, und trotz der Dunkelheit sah ich an seiner Erstarrung, was für ein Schreck ihm in die Glieder gefahren war. Er war ein großer, hübscher Bursche, ich hatte ihn vorher unter den Tänzern gesehen, als er einer der Geschicktesten, Gelenkigsten, Ausgelassensten war. Jetzt blickte er bange zu dem düsteren Baumungetüm auf. Die drei, die ihn angestiftet hatten, waren verschwunden.
„Warum singt er denn nicht weiter?“, murmelte er. „Ich hab ihn doch gar nicht getroffen …“
Auch Wrach war noch da. Er widersetzte sich dem Schieler, der ihn gepackt hielt und wegzerren wollte. Endlich gelang es ihm, sich loszumachen und ein paar Schritte beiseite zu treten. Er warf die Arme hoch, reckte das Kinn mit dem Zottelbart und rief mit seiner krähenden Greisenstimme:
„Singe weiter, Nasio! Sing doch! Warum schweigst du denn? Singe!“
Ein paar Atemzüge lang geschah nichts. Dann aber war zu meiner großen Erleichterung, zunächst kaum wahrnehmbar, wieder der hohe, zittrige Ton zu hören.
„Lauter, Nasio, lauter!“, rief Wrach.
Der Ton schwoll an und ging in das verworrene Psalmodieren über. Helko spuckte verächtlich aus, schulterte den Bogen und kehrte in wiegendem Gang zu den anderen zurück. Die Wolken gaben den Mond wieder frei. Sogleich, als löse es sich im Triumph aus dem Waldschatten, erschien über dem Dachfirst das Gesicht. Da sich der Winkel, in dem das Mondlicht einfiel, etwas verändert hatte, war der Ausdruck wieder ein anderer. Erneut war ich von der Erscheinung gefesselt, dieser eigenartigen Naturbildung, die Empfindungen wie Betroffenheit, Schrecken, Grausen auslösen konnte.
„Jetzt lacht er, der Teufel“, sagte der alte Wrach. „Scheint zufrieden zu sein.“
„Zufrieden?“, fragte ich. „Wie? Von wem sprichst du denn?“
„Von ihm. Früher hat er nie gelacht, jetzt tut er’s. Wird
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