Schädelrose
Institutsgebäudes verborgen, weil er sie in ihrem Kummer
nicht stören wollte und nicht wußte, was er sagen
sollte, wenn er den Mund aufgemacht hätte. Anscheinend hatte
sie sogar Shahids Begleitung abgelehnt. Der kleine Priester half
ihr in den Wagen, beugte sich vor, um noch ein paar letzte Worte
zu ihr zu sagen, und schloß die Tür. Als der Wagen
abhob, blieb Shahid stehen, legte den Kopf in den Nacken und sah
ihm nach; sein kleiner Körper zeichnete sich als Silhouette
gegen den hellen See ab. Am Wasser stand ein
barfüßiger Prokop genauso regungslos in der gleichen
Haltung.
Die Szene ging Joe plötzlich auf die Nerven. Was konnten
ein reaktionärer Priester und ein Journalist mit einer
Erinnerungsmacke Caroline schon zu bieten haben? Seine Augen
brannten vor Erschöpfung und vom Sonnenschein. Er trat aus
dem Schatten und ging auf Shahid zu, dessen Gesicht so müde
aussah, wie sich das von Joe anfühlte.
»Doktor Shahid.«
»Was kann ich für Sie tun, Mister McLaren? Haben
Sie von Carolines Verlust gehört?«
»Doktor Armstrong hat’s mir
erzählt.«
»Tod durch Hirnblutung kommt bei Seuchenopfern im
Kindesalter viel häufiger vor als bei
Erwachsenen.«
»Ich weiß.«
»Natürlich«, sagte Shahid. »Bitte
verzeihen Sie, daß ich Ihnen auf Ihrem eigenen Gebiet
Vorträge halte. Ich bin sehr müde.«
Plötzlich hoppelte ein Kaninchen über die Wiese; es
kam aus dem Wald und flitzte mit Höchstgeschwindigkeit zu
einer niedrigen Hecke. Beide Männer drehten sich um und
sahen ihm nach. Joe stand auf einmal auf anderem Gras,
gegenüber von einem anderen Mann mit müden Augen, beide
abgelenkt vom Spurt eines grauen Kaninchens, das im Nebel der
frühen Dämmerung kaum zu sehen war. Eichen ragten
über Joe auf, und das kalte Metall eines Pistolengriffs war
ein zusätzliches Gewicht in seiner rechten Hand, die sich
gar nicht wie seine anfühlte. »Un«, sagte
eine Stimme irgendwo von weiter links, »deux,
trois…«
»Sie hatten gerade eine Erinnerung«, sagte
Shahid.
»Ja. Es war…« Joe brach ab und runzelte die
Stirn.
»Sie brauchen es mir nicht zu erzählen. Sie haben
das Reinkarnations-Datennetz bisher nur selten benutzt, Mister
McLaren, nicht wahr?«
»Zweimal. Aber das wissen Sie doch schon, Doktor, oder?
Die angeblich so vertrauliche Information wird
überwacht.«
Shahid zeigte weder Überraschung noch Bestürzung.
»Selbstverständlich. Aber nur für
Forschungszwecke. Niemand hat je etwas anderes
behauptet.«
»Da mögen Sie recht haben. Was geht hier im
Institut vor, Doktor Shahid?«
Shahid bückte sich, um eine Sandale zurechtzuziehen.
»Wie kommen Sie darauf, daß hier >etwas
vorgeht«
»Ich kann es riechen. Anwälte können sowas,
wissen Sie.«
»Sie sind kein Spezialist für das
Reinkarnationsrecht.«
»Macht nichts. Die Sache mit dem Geruch funktioniert
trotzdem. Nur zu, Sie können’s mir sagen – wird
alles >vertraulich< behandelt.« Shahid zeigte keine
Reaktion auf den Spott. Joe machte eine Handbewegung zum See.
»Hat es was mit Prokop zu tun? Hat sich noch jemand daran
erinnert, der berüchtigte Armand Kyle gewesen zu
sein?«
»Ich glaube, Sie sind sehr müde, Mister
McLaren.«
»Da können Sie Ihre dBase drauf verwetten. Waren
zwei harte Tage. Ist es Prokop? Wieso ist er immer noch
hier, obwohl so klar auf der Hand liegt, daß er einen
Psychiater und keinen Historiker braucht? Läßt ihn die
Entdeckung, daß jemand anders Kyle gewesen ist, gerade ins
Gaga-Land abtrudeln?«
»Nicht daß ich wüßte.«
»Aha. Also, wenn Sie mir nicht sagen wollen, was mit
Prokop ist, dann sagen Sie mir folgendes: Wo ist Robbie
Brekke?«
Etwas geschah hinter Shahids Augen. »Warum wollen Sie
das wissen?« fragte er bedächtig. »Ich dachte,
Sie wären nicht gerade die besten Freunde.«
»Sind wir auch nicht. Er ist gestern abgereist. Das
weiß ich von einem Wachmann, der mir das, was ohnehin jeder
weiß, zugeraunt hat. Heute muß ich mit ihm reden,
jetzt, an diesem Morgen. Wann kommt er zurück? Er ist nicht
endgültig ausgezogen; er hat nur eine kleine Tasche
mitgenommen.«
»Geht es um etwas Persönliches?«
Joe lag eine Erwiderung auf der Zunge: Alles hier war
persönlich, nichts wurde mit kühler intellektueller
Strenge behandelt. Er sprach es nicht aus.
»Sie halten nicht viel von der Reinkarnationschirurgie,
nicht wahr, Mister McLaren?« sagte Shahid. »Sie
akzeptieren sie medizinisch, aber nicht moralisch. Sie
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