Schäfers Qualen
Kitzbühel zu sprechen. Eher blieben sie vor einer Auslage nach der anderen stehen, um festzustellen, dass sie beide einen ähnlichen Modegeschmack hatten. Oder sie bezogen ihren Gesprächsstoff aus einer Touristengruppe, der sie Platz machten, indem sie sich nebeneinander an eine Hausmauer stellten, um dann über Beruf, Hobbys und geschlechtliche Ausrichtung der vorbeiziehenden Personen zu spekulieren.
Im Restaurant benahm sich Friedrich anfangs so, als würde er dem Lokal mit seinem Besuch eine Ehre erweisen, die dieses niemals verdiente. Ließ sich Gerichte empfehlen, die er mit einer wegwerfenden Geste als weit unter seiner Würde abtat, ließ sich vom Kellner ein Meerestier nach dem andern bringen, um es nach Inspektion der seiner Meinung nach getrübten Augen wieder zurückzuschicken, blätterte die Karte so schnell durch, als kämen die angebotenen Speisen ohnehin nicht in Frage, nur um schlussendlich einen Seebarsch vom Grill mit Salzkartoffeln zu bestellen. Schäfer wusste: Egal wie gut das Essen sein würde, er konnte nie wieder einen Fuß in dieses Restaurant setzen. Die Wahl des Weins überließ Friedrich zum Glück seinem Gast. Schäfer bestellte ohne zu überlegen eine Flasche Vermentino, was der Kellner als ausgezeichnete Wahl würdigte – er konnte ja nicht wissen, dass sein Gast nur dem Klang des Wortes und nicht seiner bescheidenen Weinkenntnis vertraut hatte.
Während sie auf das Essen warteten, tauschten sie belanglose Sätze über die Einrichtung aus sowie über Methoden, in einer fremden Stadt ein gutes Restaurant zu finden. Der Seebarsch wurde serviert. Sie aßen langsam und bei bester Laune, bestätigten einander den ausgezeichneten Geschmack des Fisches und waren lange vor dem Weglegen der Servietten mit der Flasche Weißwein fertig. Der Kellner brachte eine neue, öffnete sie, ließ Schäfer goutieren und schenkte dann die Gläser halbvoll. Als sie anstießen, räusperte sich Schäfer, ohne damit etwas ausdrücken zu wollen. Doch Friedrich stellte das Glas wieder ab, ohne daraus getrunken zu haben, und schaute sein Gegenüber fast verzweifelt an.
„Nun denn“, sagte er und ließ seinen Blick sinken, „was wollen Sie wissen?“
Schäfer, der nicht mit diesem abrupten Themenwechsel gerechnet hatte, setzte im Gegensatz zu Friedrich mit dem Essen fort und gab seiner ersten Frage denselben Tonfall, mit dem er die ausgezeichnete Konsistenz der Kartoffeln gelobt hatte.
„Es gibt da ein Bild – ich war leider zu blöd, um einen Ausdruck mitzubringen –, aber vielleicht erinnern Sie sich ohnehin. Da sind Sie mit einem jungen, dunkelhaarigen Mann in einer Lederjacke und einer hübschen jungen Frau drauf. Dürfte so im Winter neunundsiebzig aufgenommen worden sein …“
„Dunkelhaarig … sicher bin ich nicht, aber wahrscheinlich ist es Radner gewesen, Andreas Radner. Der hat immer eine schwarze Lederjacke getragen. Von einer Frau hab ich jetzt überhaupt kein Bild im Kopf. Haben Sie die Fotos nicht mit?“
„Im Hotel“, antwortete Schäfer und wunderte sich, wie schnell Friedrich von einem manisch anmutenden Bonvivant zu einem unsicher wirkenden Mittfünfziger werden konnte. Er legte sein Besteck über Kreuz auf den Teller, verschränkte die Hände vor seinem Bauch und schien einfach nur abzuwarten.
„Wer war Radner?“
„Wer war er …“, sagte Friedrich und machte eine Pause. „Ein Gehetzter, der einen Platz in der Welt für sich suchte. Eigentlich ein Religiöser, wenn Sie mich fragen. Was der in der Fraktion wollte, war mir sowieso ein Rätsel …“
„Radner war RAF-Mitglied?“, platzte Schäfer heraus. Er rief den Kellner und bat ihn um einen Stift und einen Block, da er seinen eigenen im Hotel vergessen hatte.
„Na ja … Mitglied“, bemühte sich Friedrich, seine brechende Stimme auf ein hörbares Niveau zu heben, „wahrscheinlich mangels Alternativen. Ursprünglich kam er aus der Bewegung 2. Juni, wo es ihm aber zu chaotisch zuging. Er war unzufrieden … wie wir alle natürlich … aber Radner hatte gewisse Vorstellungen, mit denen er bei der RAF ohnehin nicht lange geduldet worden wäre.“ Friedrich griff zur Weinflasche, füllte sein Glas randvoll und leerte es, als ob er einen enormen Durst zu löschen hätte.
„Welche Vorstellungen?“ Schäfer hielt die Handfläche über sein Weinglas, als ihm Friedrich nachschenken wollte.
„Moralische … er bezweifelte die Sinnhaftigkeit eines bewaffneten Kampfes … Als ich ihn in Kitzbühel traf, war er gerade
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