Schalom
Wie hatte sie geheißen? Er verfluchte sein Gedächtnis, das schon länger eine gewisse Altersschwäche zeigte, obwohl er eigentlich keine Angst zu haben brauchte, wenn er von seiner Mutter auf sich selbst schloss. Außer dass sie immer Sachen verlegte, hatte sie eigentlich ein gutes Gedächtnis. Bei diesem Gedanken gingen seine Finger wie von selbst zum Telefon, er wusste nicht mehr, wann er zuletzt mit ihr gesprochen hatte, er drückte die Kurzwahltaste und wartete auf das Klingelzeichen.
Er war überrascht, eine fremde Stimme zu hören, aber er brauchte keine Sekunde, um zu begreifen, wessen Stimme ihm aus der Wohnung seiner Mutter antwortete. Nachdem seine Mutter ihm Gils Telefonnummer gegeben hatte, hatte er bereits zweimal versucht, ihn zu erreichen, und erst gestern hatte er sich bei Vicky darüber beschwert, dass Gil schon zwei Wochen im Lande sei und er es noch nicht geschafft habe, mit ihm zu sprechen. Aber als er jetzt begriff, dass Gil am Apparat war, war er seltsamerweise verlegen. Im ersten Moment wollte er sogar auflegen und seine Mutter später noch einmal anrufen, doch dann sagte er:
»Schalom, hier spricht Frau Silbers Sohn. Mit wem spreche ich?«
»Avri?«
Er hörte genau die Freude in Gils Stimme und wollte auch selbst freudig antworten, deshalb wunderte er sich über den kühlen Ton in seiner Stimme, als er sagte:
»Ja. Und wer ist der Herr dort am Telefon, wenn ich fragen darf?«
»Was ist los mit dir, Avri, ich bin’s, Gil.«
Diese direkte Ansprache löste die unsichtbare Sperre, und obwohl er schon vorher gewusst hatte, mit wem er sprach, ließ er nun seiner Freude freien Lauf.
»Gil, wie schön! Du bist also bei deiner Großmutter?«
»Ja, seit heute Morgen.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete er schnell. »Glaubst du etwa, deine Großmutter hat mir nicht erzählt, dass du sie besuchen willst?«
»Ich bin schon zum zweiten Mal hier.« Avri hörte, wie stolz der Junge klang.
»Sehr schön, sehr schön.« Avri legte einen leichten Tadel in seine Stimme, als er weitersprach. »Und was ist mit deinem Onkel? Hat er nicht ebenfalls einen Anruf verdient?« Doch er fürchtete, dass dieser Tadel in Gil das Bild eines missmutigen Onkels wecken könnte, deshalb fügte er schnell hinzu: »Das war nicht ernst gemeint. Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber das ist anscheinend sehr schwierig.«
»Ja«, sagte Gil. »Für mich ist alles hier sehr neu …«
»Das ist völlig in Ordnung, mein Lieber«, sagte Avri. »Lass dir Zeit. Du bist deinetwegen hergekommen, nicht unsretwegen.«
Ein lautes Hupen erschreckte ihn, er drehte das Lenkrad instinktiv nach rechts und hörte schon, wie er über den genoppten Randstreifen fuhr, aber er hatte die Situation schnell wieder im Griff. Das überraschende Gespräch mit Gil hatte seine Aufmerksamkeit abgelenkt. Nun fuhr er so langsam, dass der Fahrer des riesigen Lastwagens, den er kurz vorher überholt hatte, die Geduld verlor. Als Avri merkte, dass der gelbe Lastwagen ihn überholen wollte, fuhr er schneller. Nun schaute er auf die Straße vor sich und hätte fast vergessen, dass Gils Stimme noch in der Leitung war.
»Hallo, Avri? Hallo?«
»Ja, ja«, antwortete er.
»Was war da los?«, fragte Gil verwundert.
Avri beruhigte ihn und sagte, das Hupen habe nichts zu bedeuten. »Erzähl doch mal, wie du mit deiner neuen Großmutter zurechtkommst.«
Gil hielt den Hörer vermutlich etwas zur Seite, als er mit seiner Großmutter sprach, aber Avri konnte ihn verstehen. »Avri fragt, wie ich mit dir zurechtkomme.«
Die Antwort konnte er kaum verstehen. »Sag ihm, er soll sich keine Sorgen machen.« Was sie sonst noch sagte, war nur ein Murmeln.
»Großmutter sagt, wir kommen prima miteinander aus«, sagte Gil amüsiert. »Es gibt keinen Grund zur Sorge.« Avri hörte die beiden lachen.
Er stellte sich vor, wie sie in dem kleinen Wohnzimmer seiner Mutter saßen, der Duft des Kaffees füllte den Raum und vor ihnen auf dem Tisch stand ihr wunderbarer Butterkuchen. Plötzlich wünschte er sich, auch dort zu sein, und zugleich wunderte er sich über dieses neue Gefühl. Bisher hatte er bei dem Gedanken an seine Mutter oder ihr Zuhause keinerlei Sehnsucht empfunden. Er wusste, dass er sie mindestens alle zwei Tage anrufen und alle zwei Wochen besuchen musste, aber er tat es eigentlich nur aus Pflichtgefühl. Natürlich hatte er diese Aufgabe aus freien Stücken übernommen, und die Erfüllung befriedigte ihn, als hätte er einen Moraltest bestanden und
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