Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
getan?« Eine heisere Frauenstimme erhob sich aus dem Hintergrund. Vera Leonardowna schleppte sich in gebücktem Gang zu Taichin hin. Ihr Blick war anklagend, und erst jetzt fiel Leonid auf, dass sie im Gegensatz zu ihrem Bruder wie eine alte, gebeugte Frau daherkam. »Die Dämonen werden ihm keine Ruhe lassen, und wenn die Falschen erfahren, welche Kräfte er in sich vereint, werden sie ihn jagen – entweder um ihn für ihre Zwecke zu missbrauchen oder um ihn zu töten, weil er ihnen gefährlich werden könnte.«
»So kann er sich und unsere Traditionen wenigstens schützen, wenn ich eines Tages nicht mehr bin«, erklärte Taichin mit fester Stimme.
»Und was ist, wenn sie ihn trotzdem holen?« Die Stimme der Großmutter verriet ihre Abscheu. »Soll er sie alle töten? Ein Blutbad nach dem anderen anrichten? Denkst du, dadurch würde seine Seele erlöst? Du weißt doch selbst am besten, was es für eine Bürde ist, ein Schamane zu sein, noch dazu einer, der den Dämonen der Unterwelt geweiht ist, und das wird er sein, je weiter er seine unseligen Kräfte entwickelt.«
Sie schnaubte verächtlich. »Nein, Junge, wenn du mich je geliebt hast, wirst du noch heute eine Tasche packen und diese Gegend verlassen. Wir treffen uns, wenn es dunkel ist, am Ortsausgang von Vanavara, dort, wo die alte Rentierstation liegt. Ich habe in weiser Voraussicht einen Wagen organisiert, der dich nach Jakutsk bringen wird. Dort bist du zunächst in Sicherheit. Wenn das Tagebuch in die falschen Hände gerät, werden Bashtiri und Lebenov zuerst bei uns anklopfen und dann bei den übrigen Dorfbewohnern. Früher oder später werden sie zu reden beginnen. Da wird es auch nicht helfen, dass wir dich bei deinen gelegentlichen Besuchen als deinen jüngeren Cousin ausgegeben haben. Und wenn sie einen Hinweis auf den Bunker bekommen, werden sie die ganze Gegend durchkämmen.«
|314| Sie atmete noch einmal tief ein und sah ihren Bruder an, der schweigend im Türrahmen stand und zu Leonids Überraschung nicht widersprach. »Er muss hier verschwinden – so schnell wie möglich. Ich hoffe, Bruder, du behinderst uns nicht. Makar vertritt die gleiche Meinung wie ich. Schließlich waren wir es, die ihn aufgezogen haben. Wenn es nach dem Schamanen gegangen wäre, hätte er bereits die erste Woche nach seiner Geburt nicht überlebt. Ich habe mir zeit meines Lebens genug Sorgen um ihn gemacht und werde es nicht dulden, dass ihm auch nur ein Haar gekrümmt wird. Geht das in deinen Dickschädel hinein?«
»Was war das?«, flüsterte Viktoria. Die Erde hatte für einen Moment gebebt, und dann war ein einziger lauter Donnerhall zu hören gewesen.
Theisen hielt inne und leuchtete suchend in die Finsternis hinein. Ratlos wandte er sich um. »Hörte sich wie eine Sprengung an. Oder vielleicht war es ein Erdbeben?«
»Erdbeben? Mach keine Witze.« Viktoria fröstelte. Was sollte sie tun? Weiter in den Stollen hinunterlaufen, um Leonid zu suchen, und die Gefahr eingehen, verschüttet zu werden? Oder sollten sie den Weg nach draußen antreten, ohne zu wissen, ob ihr Geliebter sich noch im Innern der Katakomben befand? »Wir müssen ihn finden«, sagte sie laut und lief mit einem flauen Gefühl im Magen los, bevor Theisen noch auf die Idee kam, sie aufzuhalten.
»Viktoria!«, brüllte er so laut, dass es von den Wänden hallte. »Komm zurück! Verdammt! Du weißt doch gar nicht, wo es dort hingeht!«
Sie hatte das Gefühl, immer tiefer in den seltsamen Bunker vorzudringen, während der schneidende Lichtschein ihrer Taschenlampe die Wände zum Glitzern brachte und einen Blick auf die Kabel ermöglichte, die quer verlegt an den Wänden wie ein Wegweiser fungierten. Weiter hinter sich vernahm sie die stampfenden Schritte und den keuchenden Atem ihres Kollegen.
»Leonid!« Ihre Stimme klang schon eine Spur verzweifelter, als sie vor sich unvermittelt eine Geröllwand entdeckte. »Ende der Fahnenstange«, sagte sie mehr zu sich selbst und erinnerte sich an eine eiserne Tür, die sie beiläufig auf ihrem Weg hierher gesehen hatte. Vielleicht ging es von dort aus nach oben und zu einem Ausgang aus dem Bunker.
|315| Sven Theisen stellte sich ihr in den Weg und leuchtete ihr in die Augen.
»Kannst du mir sagen, was das soll?«, knurrte er. »Du siehst doch, dass hier niemand mehr ist.«
Unbeeindruckt deutete sie auf die verrostete Tür. »Vielleicht hat er dort einen Weg nach draußen gesucht.«
Theisen schaute sie kurz wütend an und machte sich einen Moment
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