Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
»Aha?« Lebenov zückte erneut den Taser und ging langsam auf Leonid zu. »Und wieso hat die hübsche Deutsche mir dann im Haus deiner Großmutter erzählt, dass ihr Retter dir so verdammt ähnlich sieht?«
»Keine Ahnung! Sie wird sich getäuscht haben.«
»Wir können sie holen. Dann erzähle ich ihr, was für ein feines Bürschchen sie sich da eingefangen hat. Vielleicht ist sie daran interessiert, zu erfahren, dass du in Grosny den Tod von vier meiner Männer zu verantworten hast.«
Leonid riss vor Erstaunen den Mund auf. Woher wusste Lebenov von der Sache mit den Soldaten? Es hatte keine Zeugen gegeben.
»Gott sieht alles!« Lebenov lächelte. »Denkst du ernsthaft, mir würde irgendetwas entgehen?«
»Wenn du dich schon mit Gott vergleichst, Andrej Semjonowitsch«, entgegnete Leonid spöttisch, »hättest du wissen müssen, dass mir die Flucht nach Sibirien geglückt ist.«
Lebenovs Blick verdüsterte sich. »Nicht alle sind so zuverlässig, wie man es sich wünscht. Die Truppe, die dich umbringen sollte, hat behauptet, die Sache wäre erledigt. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.«
Wieder blätterte Lebenov in dem abgegriffenen Buch. »Hier steht, dass dein Urgroßvater im Auftrag des Zaren unterwegs war und dass die Explosion von Tunguska nicht das war, wofür sie allgemein gehalten wird.« Lebenov hob drohend den Taser. »Also, was hast du mit der Sache zu tun?«
»Was sollte ich damit zu tun haben? Bist du verrückt geworden? Das ist einhundert Jahre her. Kein Mensch weiß, was damals genau geschehen ist. Es gibt unzählige Theorien. Woher sollte ausgerechnet
ich
wissen, welche die richtige ist?«
»Weil du das neunte Kind deiner Eltern warst und deine Geburt das Leben von neun Angehörigen gekostet hat. Acht Geschwister inklusive deiner armen Mutter. Gott hab sie selig.« Lebenovs Anteilnahme war aufgesetzt, und sein Lachen klang hämisch.
Leonid antwortete nicht, sondern schaute seinen Widersacher nur an.
»Wenn
du
nicht reden willst, werde ich deine kleine Babuschka einfliegen lassen, damit sie mir Rede und Antwort steht. Als Tochter des |351| alten Schenkendorff und Hüterin seiner tiefsten Geheimnisse muss sie doch wissen, worum es hier geht, nicht wahr?«
»Nein«, stieß Leonid hervor. »Lass meine Babuschka aus dem Spiel. Ich sage, was du hören willst.« Im Stillen dachte Leonid, dass ihn Lebenov ohnehin für verrückt erklären würde. Wer war schon so töricht an einen Schamanen zu glauben, der Blitze erzeugen konnte, welche die Kraft einer Nuklearexplosion hatten?
Also erzählte er Lebenov die ganze Geschichte – alles, was er von Taichin wusste. Selbst seine eigene Berufung zum mächtigsten aller Schamanen ließ er nicht aus.
Lebenov betrachtete ihn eingehend, aber er lachte nicht, ein Umstand, der auf Leonid nicht unbedingt beruhigend wirkte.
»Bringt ihm einen Eimer, damit er seine Notdurft verrichten kann, und lasst ihn nicht aus den Augen!«, befahl er kühl. Die Soldaten taten, was Lebenov von ihnen verlangte.
Lebenov selbst drehte sich auf dem Absatz um und ging ohne ein Wort der Erklärung.
Viktoria konnte kaum atmen vor Angst. Der Gedanke, nichts für Leonid tun zu können, machte sie schier wahnsinnig. Zu allem Überfluss hatte Rodius ihre Unterredung mit Kolja gestört und sie zu einem Gespräch in Theisens Krankenzimmer gebeten. Nachdem der zuständige Sanitäter für einen Moment das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Rodius auf das Fußende von Theisens Bett und bedachte Viktoria mit einem durchdringenden Blick. Offensichtlich hatte er schon mit Theisen gesprochen.
»Sven wird noch heute Abend nach Vanavara ausgeflogen. Wir werden ihn begleiten, und von dort aus werden wir morgen unsere Heimreise nach Deutschland antreten.«
Viktoria schüttelte den Kopf. »Das können wir nicht tun«, widersprach sie mit erstickter Stimme. »Wenn wir Leonid Aldanov hier zurücklassen, wird Lebenov ihn umbringen. Kolja ist der gleichen Meinung wie ich.«
»Verdammt, Viktoria«, zischte Theisen. »Dann soll er etwas für ihn tun!« Mit aufgebrachter Miene saß er in seinem Bett, den linken Arm in einer Schiene, das rechte Bein notdürftig eingegipst.
|352| »Du hast keine Ahnung, was du da redest«, giftete sie zurück. »Kolja sind die Hände gebunden.«
Theisen schaute den Professor an und nickte. Dann sagte er: »Gregor hat vollkommen recht. Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden. Ich habe kein Interesse, mich in nationale Angelegenheiten
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