Schattenblüte. Die Erwählten
bis der Wolf in mir gesiegt und ich die gleiche Folter erlitten hätte wie Haddrice?
Meine Verletzungen brennen, und meine Kraft ist erschöpft. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Weil es keine Stühle, keine Bänke gibt und auf dem Boden noch das Wasser steht, das Elias über Haddrice geschüttet hat, lehne ich mich an das Kreuz.
Ich fühle mich wie damals, als mein Bruder Fabian fast in der Nordsee ertrunken wäre. Ich habe versucht, ihn zu retten, aber ich schwimme nicht gut genug. Ich habe ihn zwar erreicht und begonnen, ihn Richtung Ufer zu ziehen, aber auf halbem Weg verließen mich meine Kräfte. Beinahe wäre ich selbst ertrunken. Jemand muss uns beiden geholfen haben. Ich erinnere mich erst wieder, dass ich am Ufer im kratzigen Sand lag und zusah, wie die Helfer meinen Bruder ins Leben zurückholten. Und da fühlte ich mich, als flösse mit dem Wasser aus meinen Haaren auch die letzte Kraft aus mir heraus. Als könnte ich nie wieder von diesem Sandstrand aufstehen und müsste in der Sonne vertrocknen wie ein gestrandeter Fisch.
Auch diese Erinnerung hat Elias zurückgeholt. Sie wird wieder verblassen, aber für einen Moment sehe ich noch einmal das Gesicht meines Bruders vor mir. Trotzdem kann ich Elias nicht dafür danken. Zu tief sitzt der Zorn darüber, dass er mich hier zurückgelassen hat – gefangen in diesem kahlen, toten Raum. Mit dem Marmorboden und den glatten weißen Wänden fühlt er sich an wie eine Kiste aus Eis. Es gibt nichts Weiches, nichts Freundliches. Ich fröstele, obwohl es gar nicht so kalt ist. Jedes Geräusch werfen die Wände hallend zurück, als machten sie sich lustig. Das einzig Farbige sind die Bilder, die in aufwendigen Rahmen an den Wänden hängen. Engel, natürlich, kämpfende, heroische Engel. Sonst ist da nichts. Ich lege den Kopf in den Nacken, um das Bild im Glas des großen Oberlichts zu betrachten, das sich über uns wölbt. Die einzige Lichtquelle in diesem ansonsten fensterlosen Raum.
Das Bild zeigt noch einen Engel, diesmal ohne Schwert. Freundlich, auf blauem Himmel segelnd, sieht er auf mich herab. Noch so ein Heuchler! Mit jedem Moment, der vergeht, hasse ich diese Engel mehr. Die Shinanim nehmen sie als Vorwand für ihre Grausamkeiten und schämen sich noch nicht mal.
Ich schließe die Augen, lehne den Kopf zurück an das Holz und stelle mir vor, es wäre ein Baum. Ich denke an Thursen und wünschte, er würde mich berühren. Thursen würde mir Mut machen. Mit ihm an meiner Seite würde ich jetzt nicht aufgeben. Nicht so leicht. Vor allem nicht kampflos.
Ich trage immer noch die Kette von ihm um den Hals, die mit dem Anhänger aus Silber, in den sein Name eingraviert ist. So ist ein bisschen von ihm immer bei mir. Ich lege die Hand auf den Kettenanhänger, und schon das reicht, die Mutlosigkeit zu vertreiben.
An der Wand neben der Tür lehnen zwei dieser Stangen mit Silberspitzen, mit denen die Shinanim uns Werwölfe auf Abstand halten. Es sind die einzigen Waffen hier im Raum, und ich denke, sie sollten nicht gerade griffbereit für die Shinanim neben der Tür stehen. Ich werfe die eine davon wie einen Wurfspeer so weit weg wie möglich an die gegenüberliegende Wand. Die andere behalte ich. Ich habe keinen Plan, aber es fühlt sich gut an, eine Waffe in der Hand zu halten, den Shinanim nicht ganz so schutzlos ausgeliefert zu sein. Haddrice, die schwarze Wölfin, schüttelt mit heftigen Bewegungen das Wasser aus ihrem Fell und knurrt, dass es von den Wänden widerhallt.
Sollen sie doch zurückkommen, die Shinanim. Ich beginne, mit meiner Lanze die Engelsbilder, die Heuchlerbilder, von den Wänden zu stoßen. Eines nach dem anderen landen sie polternd auf dem steinernen Boden.
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19. Elias
« ICH komme zurück», will ich Luisa sagen, doch als ich durch das Fenster in der Tür direkt in ihre grauen, farblosen Werwolfsaugen blicke, bleiben mir die Worte im Hals stecken. Mit einem Ruck schiebe ich den Riegel vor das Fenster und wende mich Vittorio zu, der über mein Handeln offenbar nicht erfreut ist.
«Man hat mir gesagt, du bist der, der unserem Orden am besten mit den Werwölfen helfen kann», sagt er. «Wenn das stimmt, solltest du etwas sorgsamer mit deinem Leben umgehen, Elias.»
Die beiden Wächter, die wieder vor der Tür stehen, sehen mich böse an.
Jordan kommt den Gang entlang. «Wir wären dann so weit», sagt er.
Vittorio nickt. «Ich hoffe, du bist auch so weit, Elias? Du hast unseren Zeitplan ein
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