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Schattenblüte. Die Erwählten

Schattenblüte. Die Erwählten

Titel: Schattenblüte. Die Erwählten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Melling
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feucht.
    Das Dach ist glatt von überfrorenem Schnee. Ein Fehltritt, und wir rutschen und stürzen über die Kante. Ich würde mich am liebsten keinen Zentimeter bewegen vor Angst. Ein Blick auf Haddrice sagt mir, dass es ihr ebenso geht.
    Nein, ich muss mich zusammenreißen. Wir sind hoch, doch nicht schwindelerregend hoch, sage ich mir. Ich breche die Erstarrung, in die mich meine Höhenangst zwingt. Seit ich Werwölfin bin, scheint sie noch tausendmal stärker. Das Dach ist hier oben fast flach. Gerade so schräg, dass der Regen ablaufen kann. Warum sollten wir fallen? Es gibt noch mehr Lichtkuppeln hier oben. Wie Blasen wölben sie sich auf. Unter einer von ihnen liegt bestimmt auch das Zimmer, in dem ich gefangen war. Schritt für Schritt taste ich mich voran und versuche, nicht hinunterzusehen, die Ränder des Daches nicht zu beachten.
    Ich beruhige meinen Atem. Haddrice ist dicht hinter mir, und ich rieche ihre Angst. Es weht kein Wind, sage ich mir, der uns vom Dach fegen will. Nur klirrkalte, starre Winterluft. Ich rutsche bei einem Schritt tatsächlich, doch ich fange mich und stürze nicht. Das habe ich von Elias gelernt, das ist auch eins der Dinge, an die ich mich nach seinem Kuss wieder erinnern kann: Ich war schon einmal auf einem Dach, zusammen mit ihm. Shinanim wie er haben keine Höhenangst, natürlich nicht, sie haben Engelsblut, sie können sich nicht einmal vorstellen, welche Furcht einem allein das Heruntersehen von hier oben einjagen kann. Doch Elias hat mir damals gezeigt, dass man auch mit Höhenangst über den First laufen kann, wenn man sich selbst vertraut. Ich lächle bei dem Gedanken, dass Elias mir damals unabsichtlich den Weg zur Flucht vor seinen eigenen Leuten gezeigt hat. Wir schlagen die Engelskinder mit ihren eigenen Waffen. Der Himmel gehört nicht nur ihnen allein. Ich taste mich vorwärts, und Haddrice folgt im gleichen Tempo meinen Schritten.
    «Wohin?», flüstert sie.
    Ja, wohin? Wie kommen wir wieder herab von diesem Dach? Ich hatte überlegt, ein weiteres Oberlicht zu zerstören. Doch das ist nicht nötig. An der Rückseite des Gebäudes ragt ein Gerüst über das Dach, dort können wir sicher zu Boden klettern. Einen Moment noch halten wir inne und lauschen mit Wolfsohren. Es ist still. Das Gerüst scheint verlassen, keine Arbeiter sind zu hören, zu riechen oder zu sehen. Vermutlich ruhen die Bauarbeiten wegen des Frostwetters. Gut für uns. Wir springen auf das oberste Brett, ducken uns unter den Fenstern und laufen auf dem Gerüstbrett entlang zur ersten Leiter abwärts. Haddrice bewegt sich mühsam und stöhnt leise, wenn sie an den Leitern die Arme heben muss, um sich festzuhalten. Das Gerüst hat sechs Etagen. Sechs schmale Metallleitern, die unter unseren hastigen Schritten schwanken. Wir dürfen keine Zeit verlieren, können nicht riskieren, dass Arbeiter zurückkehren, dass jemand aus dem Fenster schaut oder dass Shinanim kommen, die nach uns suchen. Mir tun bei jedem Atemzug die gerade erst verheilten Rippen weh. Doch wir schaffen es auf festen Boden. Geduckt laufen wir unter dem Baugerüst hervor, sind im selben Moment in einem Gebüsch verschwunden. Der Park ist verwildert. Wenn die Shinanim keine Hunde haben, die unsere Spuren riechen können, dann haben wir tatsächlich eine Chance. Meine inneren Wunden brennen, und die Heilung zehrt an mir. Erschöpft sacke ich zusammen.
    Haddrice wird sofort zum Wolf. Jault leise, als ihre geschundenen Arme, die nun Vorderpfoten sind, den Boden berühren. Als ich mit der Verwandlung zögere, noch immer als Mensch im Gebüsch hocke, kommt sie einen Moment später ebenfalls in ihre menschliche Gestalt zurück. Fasst sich an die Schultern und beißt die Zähne zusammen, als der Schmerz sie durchfährt. «Was ist?», will sie wissen. «Wir müssen hier weg, Shorou. Willst du etwa auf zwei Beinen hier rausspazieren?»
    Was soll ich ihr sagen? Dass ich noch einen kleinen Moment Zeit brauche, in dem ich mich an Thursen erinnere, an Thursen, wie er war, als ich noch Mensch war? An Thursen, der mich selbst da schon beschützt und begleitet hat, als er noch selbst Werwolf war? Wie viel Macht hat der Kuss eines Shinan? Vielleicht ist diese Nähe wieder gelöscht aus meinem Kopf, die Wärme aus meinem Gefühl verschwunden, wenn ich gleich zum Wolf werde. Jede Verwandlung bringt Vergessen mit sich, sagen alle. Einmal noch lege ich die Hand auf Thursens Kette, denke an ihn und verabschiede mich von der Erinnerung.
    Dann sage ich zu

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