Schattenblume
Er setzte sich auf die Stufen und wartete auf Hoss.
Clayton «Hoss» Hollister war der Sheriff von Sylacauga‐
seit Jeffrey denken konnte. Als Jeffrey den Schusswech‐
sel meldete, hatte man ihm gesagt, dass der Alte übers
Wochenende angeln war. Jetzt war Hoss auf dem Rückweg
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von Lake Martin, etwa eine halbe Autostunde von Syla‐
cauga entfernt. Am Telefon hatte Jeffrey vorgeschlagen,
schon mal mit der Untersuchung des Tatorts anzufangen,
doch sein alter Mentor hatte abgewehrt. «Lebendig wird er
davon auch nicht mehr. »
Zwei Hilfssheriffs standen auf der Straße und befragten
Roberts Nachbarn. Sie wussten, dass sie drinnen nichts zu suchen hatten, bis ihr Boss auftauchte. Hoss führte ein
eisernes Regiment im Revier. Jeffrey vertrat bei seiner
Truppe wahrlich einen anderen Führungsstil. Aber er
wusste, dass der Alte in diesem Fall besonders sorgfältig vorgehen würde. Robert und Jeffrey hätten wahrscheinlich beide eine kriminelle Laufbahn eingeschlagen, wenn
Hoss nicht gewesen wäre. Er hatte sie immer im Auge be‐
halten, seit sie Teenager waren, hatte jeden ihrer Schritte überwacht. Auch seine Hilfssheriffs wussten von seinem
speziellen Ehrgeiz, die Jungs betreffend, und wenn er nicht
da war, übernahmen sie die Aufpasserpflichten.
Damals hatte Jeffrey es gehasst. Er hatte schon einen
Vater, selbst wenn Jimmy Tolliver mehr Zeit im Knast verbrachte als zu Hause. Erst jetzt, wo Jeffrey selbst Polizist war, verstand er, welchen Dienst Hoss ihm erwiesen hatte.
Hoss war der Grund, warum Jeffrey und Robert zur Poli‐
zei gegangen waren. Auf seine Art war Hoss ihnen ein
leuchtendes Beispiel gewesen. Doch was Robert jetzt trieb,
war Jeffrey ein Rätsel.
Während Jeffrey von der Verandatreppe aus die Hilfs‐
sheriffs beobachtete, ließ er sich Roberts Geschichte wieder
und wieder durch den Kopf gehen und versuchte, auch das,
was Jessie gesagt hatte, in irgendeinen sinnvollen Zusam‐
menhang zu bringen. Irgendetwas stimmte nicht, aber das
konnte Jeffrey nicht überraschen – schließlich war er hier 150
in Sylacauga. Er hasste dieses Kuhdorf, hasste das Gefühl, dass ihm jede Sekunde, die er hier verbrachte, das Leben aussaugte. Es war eine saudumme Idee gewesen, herzu-kommen, und noch dümmer war es gewesen, Sara mitzu‐
schleppen. Nichts hatte sich in den letzten sechs Jahren ge‐
ändert. Possum und Bobby verbrachten immer noch jeden
Sonntag zusammen und schwelgten am Pool in Erinnerun‐
gen an alte Tage, während Nell ihre verbitterten Kommen‐
tare beisteuerte und Jessie sich voll laufen ließ. Sara mitzubringen hatte alles nur noch schlimmer gemacht.
Trotz seines albernen Geständnisses letzte Nacht war
Jeffrey nicht klar, was genau er für Sara empfand. Irgendwie hatte sie es geschafft, ihn zu verunsichern. Sein ursprünglicher Plan war, mit ihr nach Florida zu fahren und sie so lange zu vögeln, bis er endlich genug von ihr hatte.
Normalerweise ließen sich die Frauen nur zu gern von ihm flachlegen, und damit hatte er meistens nicht nur nach
kurzer Zeit die Nase voll von ihnen, sondern auch ein gutes Argument, zur Nächsten überzugehen. Doch Sara war
anders. Objektiv gesehen war sie genau die Art Frau, mit der er sich vorstellen konnte, eine Familie zu gründen: Die perfekte Mischung aus Sexappeal und Selbstbewusstsein,
die ihm nie langweilig wurde. Doch er musste mit seinen
Wünschen vorsichtig sein, denn unter der Oberfläche ver‐
barg sich eine harte Nuss, die es zu knacken galt. Sie hatte
ihren eigenen Kopf, und den ließ sie sich nicht so leicht nehmen. Um alles noch schlimmer zu machen, hielt Saras
Mutter ihn für den Leibhaftigen selbst, und ihre Schwes‐
ter hatte ihn mit einem einzigen Blick als den Frauenheld geoutet, der er sein Leben lang gewesen war. Als sie ihm gestern die Tür aufmachte, hatte sie ihm ins Gesicht gelacht, ihn mit einem wissenden Lächeln von Kopf bis Fuß
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gemustert und verkündet, sein Ruf sei ihm bereits voraus‐
geeilt.
Instinktiv wollte Jeffrey ihnen allen das Gegenteil be‐
weisen. Und vielleicht war genau das das Problem – und
der eigentliche Grund für die Anziehung, die Sara auf ihn ausübte. Jeffrey wollte ihre Anerkennung. Er wollte, dass
die Leute ihn für einen von den Guten hielten, für einen netten Kerl aus einer reizenden, gottesfürchtigen Familie,
die auf der richtigen Seite des Gesetzes stand. Und jetzt war er auf verlorenem Posten. Sara sah ihn mit dem gleichen Blick an, mit
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