Schattenelf - 6 - Der letzte Kampf
wusste, unter dem dunkelbraunen Stoff befand sich keine menschliche Hand, sondern die reißende Tatze einer großen Raubkatze.
De’Unnero schlug die Augen auf und maß den eigensinnigen Meister mit durchdringendem Blick. »Als König Aydrian Anspruch auf Palmaris erhob, wurde jeder Ordensbruder aufgefordert, ehrlich seine Loyalität zu bekunden.«
»Aydrian ist König«, erwiderte DeNauer.
»Und?«
»Und die abellikanische Kirche ist vom Kurs abgekommen«, räumte der Meister ein. »Abt Olin hätte damals, vor all den Jahren, als man Meister Fio Bou-raiy die Herrschaft übertrug, zum ehrwürdigen Vater gewählt werden sollen.«
»Abt Olin liefert uns derzeit den Beweis, wie wertvoll er als großer Führer ist«, warf De’Unnero, die Gelegenheit nutzend, ein. »Unter ihm erlebt die Kirche gegenwärtig einen Aufschwung wie schon seit dem sechsten Jahrhundert nicht mehr. Sein Tatendrang übertrifft die Anstrengungen sämtlicher Missionare in Alpinador.« Beim Sprechen lief er auf und ab und sonnte sich im Glanz der bewundernden Blicke. »Aber«, fuhr De’Unnero fort und blieb unvermittelt stehen, um seinen Worten durch das Heben seines Zeigefingers größeren Nachdruck zu verleihen, »seine Pflichten werden ihn noch viele Monate, vielleicht sogar Jahre davon abhalten herzukommen. Während seiner Abwesenheit verfolgt König Aydrian für die abellikanische Kirche im Bärenreich andere Ziele. Es wäre gefährlich für uns, die Wünsche unseres weisen jungen Königs zu missachten.«
»Es lebe der ehrwürdige Vater De’Unnero!«, stieß ein junger Ordensbruder begeistert hervor, und viele andere stimmten in sein Bekenntnis ein.
De’Unnero ließ DeNauer nicht aus den Augen, während der Jubel immer mehr anschwoll. Ihm fiel auf, dass er, trotz seiner spürbar geringeren Begeisterung, nicht offen widersprach. Nicht einmal seine Körperhaltung verriet Anspannung oder Ablehnung.
»Meister DeNauer«, fragte De’Unnero, als der Beifall abzuflauen begann, »seid Ihr mit dem soeben Gesagten etwa nicht einverstanden?«
»Wäre es so, dann würde ich jetzt nicht hier sein, Bruder«, erwiderte der ältere Mönch. De’Unnero entging der Doppelsinn seiner Worte keineswegs. »Ich bin kein fanatischer Anhänger von Avelyn Desbris«, fuhr DeNauer fort, »obschon ich ihn für einen gottesfürchtigen Mann halte, der es möglicherweise sogar verdient hat, zum Heiligen erklärt zu werden. Ich stelle Eure Entscheidung hinsichtlich der Edelsteine nicht etwa aus Respektlosigkeit in Frage, sondern aufgrund leidvoller Erfahrungen. Wie wird Palmaris diesmal reagieren, wenn plötzlich Ordensbrüder vor den Türen der Händler stehen und die Herausgabe der kostbaren Steine fordern? Steine, die sie der abellikanischen Kirche überdies für ein hübsches Sümmchen abgekauft haben.«
De’Unnero hörte nickend zu, während DeNauer seine Argumente vortrug. »Zunächst müssen wir jeden einzelnen Edelstein identifizieren«, erklärte er dann. »Anschließend werden wir mit den Besitzern dieser Steine persönlich in Verbindung treten. Wir werden ihnen die Steine nicht einfach wegnehmen, wie Markwart dies einst plante. König Aydrian ist sich des möglichen Unmuts bewusst, den ein solches Vorgehen hervorrufen könnte, deshalb hat er uns mit den erforderlichen Geldmitteln ausgestattet, um die heiligen Steine, die die Kirche gar nicht erst hätte veräußern sollen, zurückzukaufen. Wir sind im Begriff, ein neues Kapitel unseres Glaubens aufzuschlagen, Brüder«, erklärte De’Unnero mit erregter, fast atemloser Stimme. »Die abellikanische Kirche wird nicht länger außerhalb der weltlichen Gesellschaft des Bärenreiches agieren. Was wir derzeit erleben, ist eine Vereinigung von Kirche und Staat. König Aydrian ist unser Verbündeter.« In Erwartung eines Widerspruchs bedachte er DeNauer unvermittelt mit einem scharfen Blick. »Im Gegensatz zu Jilseponie, die während ihrer Zeit als Königin nur vorgab, unsere Verbündete zu sein«, stieß er hervor, ehe der Mann Gelegenheit hatte, einen Einwand vorzubringen. »Denn König Aydrian weiß um die Aufrichtigkeit unseres Glaubens. Sein Lehrmeister war nicht Avelyn Desbris – der in mancher Hinsicht gewiss ein gottesfürchtiger Mann war, in manch anderer jedoch irrte. Nein, König Aydrian kennt die Wahrheit über Bruder Avelyn und den ehrwürdigen Vater Markwart. Er weiß, wo beide richtig lagen und wo beide letztendlich versagten. Wir verfügten über den nötigen Reichtum, Brüder, und wir wissen
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